Edition Pleroma
Bücher für den geistigen Weg

Ein wahrer Lesegenuss in wunderschöner Sprache!
Neuauflage eines spannenden Romans aus viktorianischer Zeit.

Barabbas, Barabbas!

Das Zeugnis der Passion
von Marie Corelli

Edition Pleroma

ISBN 978-3-939647-01-0

320 Seiten, € 22,00

Der wahre Glaube ist Gnosis,
eine durch Glauben gewonnene Erkenntnis.
Die Wahrheit der Gnosis bleibt allgemeingültig.
Jesus von Nazareth wurde geboren,
um diese Wahrheit zu offenbaren.
Doch die Menschheit wird erst reif für diese Wahrheit,
wenn sie sich von der Lüge abwendet.

Marie Corelli

Einfühlsam und in unvergleichlich bildhafter Sprache erzählt Marie Corelli von der Freilassung des Barabbas und der Kreuzigung Jesu. Barabbas wird zur Symbolfigur einer zweifelnden und verzweifelten Menschheit. Seine Zeit der Läuterung verdichtet sich durch den Opfertod auf Golgatha. Denn der Eingeweihte Melchior erscheint vor Barabbas an den entscheidenden Kreuzungen von Irrtum und Wahrheit und drängt ihn, den Wandel zu Höherem binnen weniger Tage zu vollziehen. Die bildschöne Judith, der profan handelnde Judas und der in kalter Klugheit und furchtbarem Hochmut erstarrte Hohepriester Kaiphas verfestigen sich zu Prüfsteinen seiner Gesinnung. Aus dem materiellen Kerker befreite ihn das Volk, aber wird Barabbas auch von der Knechtschaft erniedrigender Leidenschaften loskommen?

Über die Autorin:

Marie Corelli (1855-1924) schrieb ihre Romane im viktorianischen England und fand Anklang bei allen Schichten des Volkes, da sie das Bewusstsein der Leser in lichte Höhen der Erkenntnis entführte ohne schulmeisterlich vorzugehen. Ihre Werke gerieten nach dem ersten Weltkrieg in Vergessenheit. Vor allem das hier neu aufgelegte Werk mit dem ursprünglichen Titel Barabbas verdient eine Neubelebung für die zunehmende Schar der Suchenden im 21. Jahrhundert.

Leseprobe:

Er hatte aber zu der Zeit einen Gefangenen,
einen sonderlichen vor anderen, der hieß Barabbas.

Matt 27, 16

Es war aber einer, genannt Barabbas,
gefangen mit den Aufrührerischen,
die im Aufruhr einen Mord begangen hatten.

Mk 15, 7

Barabbas, welcher war um eines Aufruhrs,
so in der Stadt geschehen war,
und um eines Mordes willen ins Gefängnis geworfen.

Lk 23, 19

Barabbas aber war ein Mörder. 
Joh 18, 40

Erster Band

Ein langer, schwüler, echt syrischer Tag näherte sich seinem Ende. Die drückende Hitze war fast unerträglich. Giftige, übel riechende Dünste stiegen aus den dumpfen Böden des jüdischen Gefängnisses empor und verwandelten die geringe Luft, die vorhanden, zu einer erstickenden, beängstigenden Atmosphäre. Schwarze Finsternis herrschte tief unten in den Kerkern, mit Ausnahme von einer Zelle, die den schlimmsten Verbrechern angewiesen war. Dort durchdrang Stunde auf Stunde ein dünner, weißer Lichtschein beharrlich die dichte Dunkelheit. Nur ein matter, ärmlicher Widerschein war es von dem immer gleichen Himmel des Orients; dennoch hatte er dem Auge des einsamen Gefangenen, auf den er fiel, wehgetan, und mit wildem Fluchen und Stöhnen wandte sich dieser ab von der heißen, blendenden Quelle des Lichts. Zurückweichend, soweit es die Ketten gestatten wollten, bedeckte er sein Antlitz mit den gefesselten Händen, presste die Augenlider zusammen und nagte in rastloser Wut an den Lippen, bis ihm der Mund bitter wurde von dem Geschmack des eigenen Blutes. Gar häufig hatte er solche Ausbrüche ohnmächtiger Wut. Seine Seele sträubte sich gegen jenen schmerzenden Lichtstrahl, der wie ein scharfes Schwert die tiefe Finsternis durchschnitt. Er betrachtete ihn als bitteren Feind und als Quelle täglichen Ärgers. Bezeugte er ihm doch den Lauf der trübseligen Zeit. Leuchtete er, so war es Tag, verschwand er, so war es Nacht. Weiteres wusste der Gefangene nicht, ob Minuten oder Stunden vergingen, er konnte es nicht sagen. Sein Dasein war verloren gegangen in einem endlosen Zustand dumpfen Leidens. Wilde Anfälle toller Raserei rissen ihn zeitweise heraus und brachten ihm momentane Erleichterung, um ihn dann stumpfsinniger und tierischer zu machen wie zuvor. Offenbar hatte er kein Bewusstsein seiner Lage, nur den spitzigen Strahl schien er zu fühlen, der schräg in seine Zelle fiel und seine schmerzenden Augen blendete. Den glühenden Schein der syrischen Sonne im freien offenen Lande würde er ertragen haben. Niemand wohl hätte dem bernsteinfarbenen Flammenauge, das durch den weiten blauen Himmelsdom strahlt, einen kühneren Blick zugewandt, aber jener dünne, speerartige Lichtstreif hier, der schräg durch die schmale Spalte der Mauer fiel, die jener dumpfen Höhle, in die er eingekerkert, als einziger Luftzugang diente, schien ihn höhnen und spotten zu wollen! Jammernd und klagend zog er sich in die äußerste Dunkelheit zurück und kauerte sich auf sein Lager aus schmutzigem Stroh, um sich dann wieder in neuen Flüchen zu ergehen. Gott, das Schicksal und die Menschen schmähte er in lästernden Worten, indem er sich krümmte und wand und in Anfällen tierischer Wildheit das Stroh, auf welchem er lag, mit den Fingern umkrallte. Er war allein, doch nicht ganz einsam, denn dicht neben der Ecke, wo er wie ein mürrisches Tier hockte, befand sich ein Gitter aus gekreuzten, dicken Eisenstäben. Es war das einzige Luftloch für die benachbarte Zelle. Eine fleischige, schmierige Hand machte sich plötzlich daran bemerkbar. Eine Weile tastete sie vorsichtig umher, bis sie schließlich den Saum seines Gewandes fand und vorsichtig daran zupfte. Eine schwache heisere Stimme rief ihn bei seinem Namen:

»Barabbas!«
Mit einer blitzartigen, wilden Bewegung wandte er sich um, dass seine Ketten düster klirrten.

»Was gibt es?«
»Man hat uns vergessen«, winselte die Stimme. »Seit früh am Morgen hat man uns keine Nahrung gebracht. Ich sterbe vor Hunger und Durst! Ach hätte ich doch nie dein Antlitz gesehen, Barabbas, noch je etwas mit deinen schlimmen Ränken zu tun gehabt!«

Barabbas gab keine Antwort.
»Weißt du nicht«, fuhr sein unsichtbarer verbrecherischer Gefährte fort, »was dies für eine Zeit im Lande ist?«

»Wie sollte ich es wissen«, warf Barabbas verächtlich zurück. »Was sind mir Zeiten! Ist es ein Jahr oder sind es Jahre, seit wir hierher gebracht wurden? Wenn du es sagen kannst, ich kann es nicht.«

»Achtzehn Monate sind es, seit du den Pharisäer erschlugst«, erwiderte sein Nachbar mit verhohlener Bosheit, »und wäre es nicht um jene deiner bösen Tat willen, so hätten wir uns das jetzige Elend ersparen können. Es ist wahrlich ein Wunder, dass wir so lange aushielten, denn siehe, es ist Passah.«

Barabbas sprach kein Wort, weder eines der Überraschung noch des Interesses.

»Denkst du an den bei jenem Fest herrschenden Brauch?« fuhr der Sprecher fort. »Dass ein von dem Volk erwählter Gefangener in Freiheit gesetzt wird? Möge es einer von uns sein, Barabbas! Zehn Mann waren wir in unserer Rotte, zehn der tüchtigsten Leute Judäas, dich natürlich ausgenommen. Denn du warst damals toll vor Liebe und ein tobender Liebhaber ist der schlimmste aller Narren!«

Barabbas schwieg immer noch.

»Wenn die Unschuld ein Verdienst hat«, fuhr die Stimme hinter dem Gitter ängstlich fort», dann fällt vielleicht die Wahl auf mich! Denn bin ich nicht ein unschuldiger Mensch? Der Gott meiner Väter weiß, dass meine Hände nicht von dem Blut der Tugendhaften befleckt sind; ich erschlug keinen Pharisäer! Ein wenig Gold war alles, was ich suchte.«

»Und nahmst du es etwa nicht?«, fiel Barabbas plötzlich mit Verachtung ein. »Du Heuchler! Raubtest du dem Pharisäer nicht alles, was er hatte, bis auf seinen letzten Edelstein? Ergriff dich nicht die Wache, gerade als du im Begriff standest, mit deinen Zähnen die goldene Spange an seinem Arm zu zerbrechen, noch ehe sein Körper aufgehört hatte zu atmen? Lass dein Geprahle! Du bist der schlimmste Dieb in Jerusalem und du weißt es genau!«

Ein halb ächzender, halb knurrender Ton drang durch das Gitter. Mit boshaftem Griff zeigte sich blitzschnell die fleischige Hand, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Eine Pause folgte.

»Keine Nahrung den ganzen Tag!«, stöhnte die Stimme gleich darauf wieder, »und nicht einen Tropfen Wasser! Wenn sie nicht bald kommen, muss ich sterben! Sterben in dieser Dunkelheit, in dieser tiefen pechschwarzen Finsternis«, und die matten Laute zitterten noch ängstlicher in schrillem Ton. »Hörst du mich, du verfluchter Barabbas? Ich werde sterben!«

»Dann ist es eben aus mit dir«, erwiderte Barabbas gleichgültig, »und diejenigen in der Stadt, die Gold ansparen, können in Zukunft unbehelligt bei offenen Türen schlafen!«

Wieder kam die hässliche Hand, dieses Mal aber geballt. Und der Ausdruck des Hasses, der darin lag, ließ nur allzu deutlich auf den schurkenhaften Charakter ihres unsichtbaren Eigentümers schließen.

»Du bist ein Teufel, Barabbas!« Und der schattenhafte Umriss eines fahlen Gesichtes mit struppigen Haaren erschien für einen Augenblick an dem Gitter. »Und ich schwöre dir, dass ich weiterleben will, einzig und allein genährt durch die Hoffnung, dich gekreuzigt zu sehen!«

Barabbas beobachtete ihn schweigend und schleppte sich und seine klirrenden Ketten aus der Nähe seines erbitterten Mitgefangenen. Misstrauisch die Augen erhebend, blinzelte er mit heftigem Schmerzgefühl nach oben. Ein Seufzer der Erleichterung entfloh ihm, als er sah, dass der speerartige, leuchtende Strahl nicht länger die Zelle erhellte. Ein matter, hochroter Schein war an seine Stelle getreten.

»Sonnenuntergang!«, murmelte er. »Wie oft ist die Sonne auf- und untergegangen, seit ich sie zum letzten Mal schaute! Dies ist ihre Lieblingsstunde. Mit ihren Gespielinnen wird sie jetzt nach der Quelle gehen hinter ihres Vaters Haus, um unter den Palmenbäumen zu rasten und sich zu erfreuen, während ich — ich — o Gott der Rache! — vielleicht niemals wieder ihr Antlitz sehe. Achtzehn Monate der Qual! Achtzehn Monate in diesem Grab ohne Hoffnung auf Erlösung!«

Mit einer wilden Gebärde erhob er sich und stand hoch aufgerichtet in seiner Zelle, sodass sein Kopf fast die Kerkerdecke berührte. Vorsichtig schritt er vorwärts, doch hart und unharmonisch klirrten die Ketten an seinen nackten Beinen. Mit einem Fuß in eine Höhlung der Mauer tretend, wurde es ihm leicht, seine Augen in eine Linie mit der schmalen Öffnung zu bringen, durch welche die warme Glut der untergehenden Sonne fiel. Doch nur wenig war von dem Beobachtungsposten aus zu sehen, ein viereckiges Stück trockenen, unbebauten Landes, das zum Gefängnis gehörte, und ein einsamer Palmbaum, dessen federartige Blätter gen Himmel ragten. Einen kurzen Augenblick starrte er hinaus, und es war ihm, als könnte er in nebliger Ferne die Hügel im Umkreis der Stadt erblicken, doch zu schwach von langem Fasten, seinen Beobachtungsposten länger einzunehmen, glitt er hinunter und kehrte in seine frühere Ecke zurück. Dort saß er und stierte düster in den rosenfarbenen Widerschein zu seinen Füßen, der teils auch auf seine eigenen Gesichtszüge fiel, aus denen finster zusammengezogene Brauen und schwarze, zornblickende Augen besonders deutlich hervortraten. Ein heller lebensvoller Hauch hatte sich auf seine nackte Brust gelegt, die sich unter dem unregelmäßigen, gepressten Atem, der auf lange Erschöpfung und ausgestandenen Hunger deutete, hob und senkte, und in kupferartiger unheimlicher Färbung glitzerte es auf den massiven eisernen Banden, mit denen seine Gelenke zusammengeschmiedet waren. Mit seinen straff herabhängenden Haaren und wildem Bart glich er mehr einem gefangenen wilden Tier als einem menschlichen Wesen. Er war nur spärlich gekleidet. Sein ganzes Gewand bestand aus einem Stück Sackleinwand, das von einem groben, doppelt geschlungenen und lose geknüpften schwarzen Seil an den Hüften gehalten wurde. Die Hitze in der Zelle war unerträglich, dennoch schauderte es ihn ab und zu, als er sich in dem erstickenden Düster zusammenkauerte, die Knie bis an das Kinn hinaufzog und die gefesselten Hände auf den Knien ruhen ließ, während er mit eulenartiger Beharrlichkeit nach dem roten Schein blickte, der mit jeder Sekunde blasser und trüber wurde.

War es ein brennendes Rot gewesen, rot wie das Blut eines erschlagenen Pharisäers, dachte Barabbas mit finsterem Lächeln. Doch jetzt war es abgeschwächt zu einem zarten mattroten Schimmer, gleich dem flüchtigen Erröten einer schönen Frau, und ein heftiger Schauder schüttelte ihn, als dieser letztere Gedanke sein krankes, düsteres Gemüt durchkreuzte. Mit einem unterdrückten Schrei krampfte er die Hände zusammen, als ob er von einem unerträglichen, physischen Schmerz befallen wäre.

»Judith — Judith!«, flüsterte er und wiederum, »Judith!«

Heftig zitternd wandte er sich um und verbarg sein Gesicht, wobei er die Stirn dicht an die feuchte, schleimige Mauer presste. So blieb er regungslos, gleich einem in Stein gehauenen Titanen. Der letzte rote Schimmer der gesunkenen Sonne war bald verblichen, und tiefe Dunkelheit brach ein. Kein Laut, keine Regung verriet das Dasein eines menschlichen Geschöpfes in jener dumpfen Höhle. Nur die trippelnden Füße der Mäuse, die hastig über den Boden huschten, verursachten ab und zu ein schwaches, geheimnisvolles Geräusch, sonst herrschte tiefe Ruhe. Draußen entfaltete sich der Himmel in seiner ganzen Majestät; die Planeten schwammen in Purpur-Äther und schienen sich gleich Wasserlilien auf einem See zu erschließen und zu leuchten. Im Osten zeigte eine silberne Wolkenwand, wo der Mond demnächst aufgehen würde, und durch die Fensterspalte des Kerkers konnte ein kleiner, matt flimmernder Stern gerade gesehen werden. Doch kein Silberstrahl des Mondes, der schließlich am Himmel emporstieg, fiel herein, um die dichten Schattenmassen der trübseligen Zelle zu zerstreuen oder die zusammengekauerte Gestalt des unglücklichen Gefangenen mit mitleidsvollem Schein zu berühren. Ungesehen und einsam kämpfte er mit seinem physischen und geistigen Elend, unbewusst, dass die Mauer, gegen die er sich lehnte, warm und feucht wurde von seinen Tränen, von den schmerzvollen, blutigen Tränen eines starken Mannes in bitterer Seelenangst.

II

Stunden vergingen. Da plötzlich wurde das düstere Schweigen von dumpfem Tosen gebrochen, ein hohler Klang war es, wie das Heranrauschen der See. Weit in der Ferne fing es an, an Kraft gewinnend im Näherkommen. Vorwärts rollend, beständig an Umfang wachsend, schien es sich dicht an den Kerkermauern in Tausende von zornigen Echos zu zerspalten, und ein verwirrter Tumult geräuschvoller Zungen erhob sich, vermischt mit unruhigem, hastigem Fußgetrampel und Klirren von Waffen. Heisere Stimmen schrieen gebieterisch, schrille Pfiffe ertönten, und die Flammen geschwungener Fackeln warfen hie und da einen flackernden Feuerschein in den Kerker, wo Barabbas lag. Ein lautes Lachen, gefolgt von dem Ruf: »Wahrsage, wahrsage! Wer ist es, der dich schlug?«, klang laut und deutlich aus dem Stimmengewirr.

Das Gelächter wurde allgemein, um in ein tolles Brüllen, Heulen und Zischen auszuarten. Dann trat eine kurze Pause ein, in welcher sich ein Teil des Lärmens legte, während ein heftiger Wortwechsel zwischen einigen angesehenen Persönlichkeiten stattzufinden schien. Nicht lange, so erhob sich von neuem das ozeanartige Gebrause. Immer höher schwoll es an, legte sich aber nach und nach, bis es allmählich wie fernes Donnergrollen verhallte. Solange es noch in Hörweite blieb, wurde im Innern des Kerkers eine Kette langsam über den Boden geschleift, zwei gefesselte Hände klopften leise an das Gitter und die Stimme, die vorher gerufen, rief jetzt wieder:

»Barabbas!«

Keine Antwort.

»Barabbas! Hörst du die vorüberziehende Menge?«

Immer noch Schweigen.

»Barabbas! Hund! Mörder!«, und der Sprecher tat mit seinen beiden Fäusten einen zornigen Schlag wider die tönenden Eisenstäbe. »Bist du taub für gute Nachricht? Ich sage dir, es ist Streit und Zank in der Stadt, ein neuer Aufstand. Möglicherweise haben unsere Freunde gesiegt, wo wir unterlagen! Nieder mit dem Gesetz! Nieder mit den Tyrannen und Unterdrückern! Nieder mit den Pharisäern! Nieder mit allen!« Und er lachte, doch klang sein Lachen mehr wie heiseres Geflüster. »Barabbas! Wir werden frei sein! Frei! Stell es dir vor, du Schurke! Tausend Flüche über dich! Bist du tot oder schlafend, dass du nicht antworten willst?«

Doch er erschöpfte seine Stimme vergebens; und vergebens schlugen seine Fäuste wider das Gitter. Barabbas blieb stumm. Das heller gewordene Mondlicht durchdrang das Düster seiner Zelle. Der silberige Glanz verwischte jedoch die Gegenstände mehr als er sie erleuchtete, so dass die Umrisse seiner Gestalt kaum von seinem Mitgefangenen unterschieden werden konnten, obwohl sich dieser vergebens bemühte, ihn durch die Eisenstäbe des tiefer liegenden Kerkers zu sehen. Inzwischen hatte sich die geräuschvolle Menge in der Ferne verzogen und nur ein schwaches Gemurmel erhob sich von Zeit zu Zeit wie brandende Wogen an einer felsigen Küste.

»Barabbas! Barabbas!«, und die verärgerte matte Stimme wurde plötzlich laut in einem Anfall von Trotz und Wut. »Wenn gute Nachrichten dein Interesse nicht wecken, so sollen es schlechte tun! Höre mich! Höre deinen Freund Hanan, der die Schliche der Weiber besser kennt als du! Warum hast du den Pharisäer getötet, du Narr? Es war vergebliche Mühe; denn dessen er sich rühmte, beruhte auf Wahrheit und deine Judith ist eine ... «

Das beschimpfende Wort, das er auf den Lippen hatte, kam nie zum Ausdruck. Mit plötzlichem Sprung stürzte sich der bis dahin teilnahmslose Barabbas wie ein gereizter, in seinem Lager überfallener Löwe auf ihn. In wilder Leidenschaft packte er die beiden Hände, die dieser durch das Gitter gesteckt hatte, um sich zu stützen und bog und quetschte sie mit einer so schrecklichen Wildheit gegen die Eisenstäbe, dass sie an den Gelenken auseinander zu brechen drohten.

»Verfluchter Hanan! Hund! Wage es, ihren Namen noch einmal zu nennen, und ich werde deine Räuberhände an diesem stumpfen Eisen absägen, dass dir zum Stehlen nur noch die blutigen Stümpfe bleiben!«

Angesicht zu Angesicht im matten, trüben Mondenscheine, fast unsichtbar für einander, rangen und kämpften sie eine kurze Weile trotz allem Unvermögen in seltsamer Wut, dass die Ketten an ihren gefesselten Armen wider die Eisenstangen klirrten, bis Hanan mit einem wilden Schmerzensschrei seine verstümmelten Finger und zerrissenen Gelenke aus dem eisernen Griff des Feindes befreite und hilflos hinab in die Dunkelheit seiner Höhle fiel. Auch Barabbas stürzte rückwärts auf sein Strohlager, wo er schwer atmend und am ganzen Körper zitternd liegen blieb.

»Wenn es wahr wäre«, murmelte er zwischen den fest aufeinander gepressten Zähnen, »wenn es wahr wäre, wenn sie falsch wäre, wenn das schöne Fleisch und Blut nur eine Maske der Gemeinheit wäre - O Gott! - dann würde sie schlimmer sein als ich, ein größerer Sünder als ich je gewesen bin!«

Er vergrub seinen Kopf in die Höhlung seines Armes und lag ganz still, sich bemühend, das Problem seiner eigenen blinden, ungezügelten Leidenschaften auszudenken. Es war ein zu finsteres, schwieriges Rätsel, um es so leicht zu lösen; und allmählich verwirrte sich sein Geist, seine Gedanken fingen an zu wandern, und er verfiel in einen Zustand der Betäubung, der nach der schmerzlichen Erregung eine wahre Erlösung war. Die geballten Hände lösten sich, der Atem ging leichter und bald streckte er sich mit einem tiefen Seufzer der Erschöpfung wie ein müder Hund auf dem Lager aus und schlief ein.

Die Nacht schritt in ruhiger Hoheit vor. In stiller Harmonie bewegten sich der Mond und seine schwesterlichen Planeten in ihren lichtvollen Bahnen. Von allen Teilen der Erde stiegen Gebete in jeder Gestalt und Glaubensart empor zum Himmel, flehend um Barmherzigkeit, Verzeihung und Segen für die sündige Menschheit, die selbst weder Barmherzigkeit, Verzeihung noch Segen kannte, bis wie durch einen Zauberschlag der purpurüberflutete Himmel eine perlgraue Farbe annahm — der Mond blasser und blasser ward, die Sterne einer nach dem anderen wie Lampen nach einem großen Fest ausgelöscht wurden und der Morgen seine Nähe durch das Wehen einer frischeren Luft verkündete. Aber Barabbas schlief immer noch. In seinem Schlaf hatte er unbewusst sein Gesicht dem wenigen schimmernden Licht zugewandt, welches vorhanden war, und ein friedliches Lächeln glättete die wilde Rauheit seiner Züge. So schlummernd war es möglich sich vorzustellen, wie dieser ungeschliffene, grobe Geselle wohl in seiner Knabenzeit ausgesehen hatte. Trotz der gefesselten Glieder lag etwas von Anmut in seiner Stellung — die Linien um seinen Mund, dessen Schwingung gerade durch den wirren Bart gesehen werden konnte, deuteten auf zartere Regungen, und auf der breiten Stirn und den geschlossenen Augenlidern ruhte eine gewisse ernste Schönheit. Wach erschien er vollkommen, was er war, ein rebellischer, verstockter Verbrecher, aber in jenem Zustand vollkommener Ruhe und tiefen Friedens hätte er für einen ehrlichen Mann gelten können, dem bitteres Unrecht geschehen war.

Mit der ersten schwachen Morgendämmerung erhob sich plötzlich ein ungewohntes Lärmen und Treiben in den äußeren Gefängnishöfen. Barabbas, noch vom Schlummer befangen, hörte es in halbwachem Zustand, ohne sich darüber klar zu werden, was es bedeutete. Doch als es lauter wurde, öffnete er widerwillig die Augen, stützte sich auf seinen Arm und lauschte. Bald vernahm er in der Ferne den Klang von klirrenden Waffen und den eintönigen Tritt von Menschen. Während er sich noch über die ungewöhnliche Bewegung wunderte, soweit dies seine Schläfrigkeit zuließ, kam das Klirren und Rasseln und Marschieren näher und näher, bis es außerhalb seiner Zelle einen plötzlichen Stillstand gab. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die ungeheuren Riegel wurden zurückgestoßen, die Tür flog auf und eine solche Lichtflut strömte herein, dass er die Augen mit den Händen bedeckte, als ob er sie vor einem Schlag schützen wollte. Blinzelnd wie eine erschreckte Eule raffte er sich zu einer sitzenden Stellung empor und starrte stumpfsinnig auf das, was sich seinen Blicken bot. Ein Trupp glitzernder Soldaten unter der Führung eines Offiziers, der, in der einen Hand eine rauchende Fackel haltend, mit gebieterischem Blick die schwarze Finsternis zu durchbohren suchte.

»Tritt hervor, Barabbas!«

Barabbas stierte und stierte wie im Traum, offenbar ohne jegliches Verständnis.

Da ertönte lautes, gellendes Geschrei:

»Ich auch! Ich, Hanan, bin unschuldig! Bringt mich auch vor den Gerichtshof! Gebt mir Gerechtigkeit! Barabbas erschlug den Pharisäer, nicht ich! Die Gnade des Festes für Hanan! Ihr werdet doch Barabbas nicht wegführen und mich hier lassen?«

Den Klagen wurde jedoch keine Beachtung geschenkt. Der Offizier wiederholte nur seinen Befehl: »Tritt hervor, Barabbas!«

Barabbas, der nach und nach etwas mehr aufwachte, stolperte auf seine Füße und bemühte sich zu gehorchen, doch seine schweren Ketten hinderten ihn am Gehen. Als dies der Offizier bemerkte, gab er seinen Leuten einen Befehl und in wenigen Minuten waren die hindernden Fesseln abgeschlagen und der Gefangene sofort von der Wache umgeben.

»Barabbas! Barabbas!«, schrie Hanan in seiner Zelle.

Barabbas stand still und blickte die Soldaten unsicher an, die ihn in ihre Mitte drängten. Dann wandte er den Blick auf ihren Befehlshaber.

»Wenn ich zu meinem Tod gehe«, sagte er matt, »so bitte ich dich, jenem Mann dort Nahrung zu geben. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hat er gehungert und gedürstet — und er war einst mein Freund.«

Der Offizier betrachtete ihn etwas neugierig.

»Ist das deine letzte Bitte, Barabbas?«, forschte er. »Es ist Passah, und wir wollen dir jeden nur einigermaßen vernünftigen Wunsch gewähren.«

Er lachte und seine Leute fielen in das Gelächter ein. Doch Barabbas stierte gerade vor sich, und seine Augen blickten wie ein gehetztes Wild, das von den Hunden gestellt ist.

»Tut es aus Mitleid«, murmelte er leise; »auch ich habe gehungert und gedürstet, aber Hanan ist schwächer als ich.«

Wiederum blickte ihn der Offizier an, aber dieses Mal würdigte er ihn keiner Antwort. Sich scharf umdrehend sprach er das Kommandowort, stellte sich an die Spitze seiner Leute und der ganze Trupp, mit Barabbas in der Mitte streng bewacht, setzte sich in Bewegung, um sich aus den dunklen Kerkerräumen nach den oberen Stockwerken des Gebäudes zu begeben. Und als sie durch die Steingänge schritten, löschten sie die Fackeln, die sie trugen, aus, denn die Nacht war vorüber und der Morgen gekommen.

III

Als sie den Gefängnishof betraten, machte der Trupp Halt, während die großen Tore aufgemacht wurden, um ihnen den Ausgang zu gestatten. Draußen war die Straße - die Stadt - die Freiheit! Und Barabbas, der immer noch vor sich hinstierte, stieß einen heiseren Schrei aus und brachte die gefesselten Hände an seine Kehle, als ob er am Ersticken wäre.

»Was hast du?«, fragte einer der Leute, die ihm zunächst standen, indem er ihm mit dem Schaft seiner Waffe einen Stoß in die Rippen versetzte. »Gerade gestanden, Tor! Du willst mir doch nicht weismachen, dass ein Lufthauch dich zu Fall bringen kann wie einen geschlachteten Ochsen.«

Denn Barabbas taumelte und wäre kopfüber zu Boden gestürzt, hätten die Soldaten seine schwankende Gestalt nicht aufgefangen und ihn, wenn auch unsanft und unter heftigem Fluchen, wieder empor gerichtet. Aber auf seinem Antlitz lag die Blässe des Todes. Seine Lippen, die trotz des struppigen Bartes sichtbar waren, krampften sich zusammen wie die eines Leichnams und legten die gefletschten Zähne frei; sein Atem war kaum vernehmbar.

Der Befehlshaber schritt vor und blickte ihn prüfend an.

»Der Mann ist verhungert«, sagte er kurz, »gebt ihm Wein.«

Dem Befehl wurde sofort Folge geleistet. Man führte Wein an den Mund des ohnmächtigen Gefangenen, doch seine Zähne waren fest auf einander gepresst, und er blieb bewusstlos. Tropfen auf Tropfen zwang man jedoch die Flüssigkeit unsanft in seine Kehle, und nach ein paar Minuten hob sich seine Brust unter den schweren Atemzügen des zurückkehrenden Lebens und seine Augen öffneten sich weit.

»Luft - Luft!«, keuchte er. »Die freie Luft - das Licht.«

Tastend streckte er die mit Ketten belasteten Hände aus, und in einem plötzlichen Kraftausbruch, veranlasst durch die Wärme des Weines, lachte er wild auf.

»Freiheit!« rief er aus. »Freiheit! Leben oder sterben, einerlei! Frei! Frei!«

»Halte deinen Mund, du Hund!«, sagte der befehlhabende Offizier in scharfem Ton. »Wer sagte dir, du seiest frei? Schau deine gefesselten Glieder und sei vernünftig! Bewacht ihn gut, Leute! Marsch!«

Die Gefängnistüren drehten sich kreischend in ihren Angeln und fielen zu. Der gleichmäßige Schritt der kleinen Truppe erweckte einen metallischen Widerhall, als sie durch die steinige Straße defilierten und eine steile Fluchttreppe hinabstiegen. Letztere brachte sie zu einem unterirdischen Gang, der in direkter Verbindung mit dem Gerichtshof oder der Richthalle stand. Es war ein langer, gewölbter Gang, der zahllose Krümmungen und Drehungen machte. In Wandleuchtern angebrachte Öllampen erhellten ihn nur matt, und das flackernde Licht, das sich in bestimmten Zwischenräumen stets erneute, machte die unheimliche Dunkelheit des Ortes nur umso greifbarer. Wie in den eben verlassenen Kerkern deutete auch hier alles auf Trübseligkeit und Gefangenschaft. Und Barabbas, dessen Herz von neuem anfing in unbestimmter Furcht zu bangen, zitterte und schauderte. Von Schwindel erfasst stolperte er mehrere Male, als er versuchte, mit seiner gleichmäßig marschierenden Eskorte Schritt zu halten. Die Hoffnung erstarb in ihm. Der leuchtende Gedanke an Freiheit, der ihn im Vorgefühl zu einem plötzlichen Entzückungsausbruch hingerissen hatte, floh dahin wie ein Traum. Man führte ihn soeben zu seinem Tod, dessen war er ganz sicher. Welche Gnade konnte er von Seiten des Richters erwarten, von dem er, wie er wusste, verhört und verurteilt würde? Denn war nicht Pontius Pilatus Statthalter von Judäa und hatte nicht er, Barabbas, in einem Augenblick sinnloser Wut einen von Pilatus' Freunden erschlagen? Jenen verfluchten Pharisäer mit seinen glatten Manieren, seinem selbstgerechten Lächeln, seiner weißen Hand, dem schimmernden Wappen eines unschätzbaren Brillanten am Zeigefinger. Der kleinsten Details in Kleidung und Wesen, welche die unverschämte und aggressive Persönlichkeit des Mannes ausmachten, erinnerte sich Barabbas mit einem Gefühl des Abscheus. Er konnte ihn fast sehen, wie er ihn damals sah, ehe er ihn mit einem grimmigen Stich zu Boden warf, wo er schrecklich blutend im leuchtenden Mondenschein, mit weit geöffneten Augen liegen blieb, die bis zum letzten Atemzug in stummem, schrecklichem Hass auf seinem Mörder hafteten. Und für ein Leben muss wieder ein Leben gegeben werden; Barabbas erkannte die unerbittliche Gerechtigkeit des Gesetzes an. Nur die Art des Todes, die, wie er wusste, für solche Verbrecher wie er bestimmt war, ließ seine Nerven in Furcht und Todesangst zurückschaudern. Wenn sein Dasein, wie bei dem Pharisäer, in einem Augenblick vernichtet werden könnte, o, dann wollte es nichts heißen. Aber auf hölzerne Balken geschlagen zu sein, um stundenlang zu verbrennen, zu fühlen, wie jede Sehne gezerrt wird zum Springen und jeder Tropfen Blut sich erst zu Feuer und dann zu Eis verwandelt, dies genügte, den stärksten Mann schaudern zu lassen. Und Barabbas, der von langem Fasten und Mangel an Luft geschwächt war, zitterte zuzeiten so heftig, dass er nur mit Mühe seine Glieder dahinschleppen konnte. Alles schwamm um ihn herum und die Augen schmerzten ihn. In seinen Ohren herrschte ein dumpfes Getöse, welches teilweise durch den Blutzudrang nach seinem Gehirn, teilweise durch den Widerhall eines Schalles verursacht wurde, der mit jedem Schritt deutlicher und lauter wurde. Es war ein Brüllen und zorniges Stimmengewirr, in dessen Mitte er seinen eigenen Namen zu hören glaubte.

»Barabbas! Barabbas!«

Bestürzt blickte er forschend auf die Soldaten, die ihn umgaben, aber ihre teilnahmslosen, bronzefarbenen Züge verrieten kein Verständnis. Vergebens strebte er noch aufmerksamer hinzuhorchen. Das Waffengeklirr seiner Wache und der gleichmäßige Tritt ihrer Füße auf dem Steinpflaster hinderten ihn daran, den wahren Inhalt des ferneren Geschreies zu erfassen. Doch sicherlich, da war wieder der Ruf.

»Barabbas! Barabbas!«

Ein tödlicher Schrecken erfasste ihn plötzlich, ein rasches, fürchterliches Verständnis seiner wahren Lage. Der Pöbel, unerbittlich in allen Jahrhunderten, schrie offenbar nach seinem Tod und war mit der Vorbereitung begriffen, sich an seinen Qualen zu belustigen. Gibt es doch nichts Herrlicheres für den gemeinen Haufen, als die physische Todesangst eines hilflosen Mitmenschen, nichts, was seine Lachmuskeln besser in Bewegung hält als die Verzweiflung, die schmerzvollen Zuckungen und der letzte Kampf eines unglücklichen menschlichen Geschöpfes, das verdammt ist, nach endlosen grausamen Qualen zu sterben. Dieser Gedanke brachte den dicken Angstschweiß auf seine Stirne, und als er kraftlos weitertaumelte, betete er stumm um ein rasches Ende, betete er, dass ein barmherziger Erguss seines heißen, wallenden Blutes nach dem Lebenszentrum seines Gehirns erfolgen und er in das Nichts versinken möchte, wie ein Stein in die tiefe See. Alles — alles lieber als dem Hohn und Spott der grausamen Menge ausgesetzt zu sein, die wie zu einem Fest zusammenströmte, um ihn sterben zu sehen!

Näher und näher kam das Gejohle und Getöse, das nur von Zeit zu Zeit durch verhältnismäßige Stille unterbrochen wurde. Und während einer solchen Pause kam seine unfreiwillige Reise zu einem Ende. Nach einer scharfen Drehung um die letzte Ecke des unterirdischen Ganges traten die Soldaten in das Tageslicht hinaus und durchschritten einen leeren kreisrunden Hof, der von der silbergrauen Färbung der frühen Morgendämmerung Licht und Kühle erhielt. Nachdem sie schließlich einen säulenartigen Bogen passiert hatten, betraten sie eine riesige Halle, die offenbar in zwei viereckige Räume geteilt war. Der eine war leer, mit Ausnahme von einigen weithin sichtbaren Gestalten, die sich malerisch von dem dunklen Hintergrund aus purpurnen, goldumsäumten Gehängen abhoben. Der andere war dicht gedrängt von Leuten, die nur vermittelst einer Reihe römischer Soldaten verhindert werden konnten, in den für die Richter reservierten Teil einzudringen.

Bei dem Erscheinen von Barabbas mit seiner bewaffneten Eskorte wandten einige die Köpfe und hastiges Flüstern wurde unter der Menge ausgetauscht; doch kein Blick wahren Interesses oder Mitleids wurde ihm zuteil. Die Menge war von einer weit wichtigeren Angelegenheit erfüllt. Ein solches Verhör, wie es bevorstand, hatte sich noch nie in den Mauern eines menschlichen Gerichtshofes abgespielt, und ein solcher Gefangener, wie er verhört werden sollte, hatte noch nie einem sterblichen Menschen Rede gestanden. Obwohl ganz betäubt, wurde es Barabbas mit einem plötzlichen Gefühl der Erleichterung allmählich klar, dass vielleicht doch seine schrecklichen Angstgefühle grundlos gewesen sind. Kein Zeichen deutete wenigstens im Augenblick darauf hin, dass sein Tod gewünscht wurde, um dem Pöbel einen extra Genuss zu bereiten. Angesteckt von dem Geist der Neugier und Aufmerksamkeit, der alle durchdrang, reckte er begierig den Hals, um einen Blick von dem zu erhaschen, was vor sich ging. Als er dies tat, wichen die Leute in offenbarem Widerwillen vor ihm zurück. Aber er schenkte diesem Ausdruck stummer Abneigung wenig Beachtung, da sich durch das einmütige Zurückschaudern eine angenehme Lücke gebildet hatte, durch die er deutlich den Richtstuhl mit seiner ganzen pomphaften Umgebung sehen konnte. Mehrere Mitglieder des Sanhedrin saßen dort, von denen er einige, zum Beispiel den Hohepriester Kaiphas und seinen Kollegen Annas, kannte. Mehrere Schreiber nahmen niedrigere Bänke ein und waren eifrig mit Schreiben beschäftigt. Unter diesen würdevoll erhabenen Persönlichkeiten bemerkte er zu seinem Erstaunen einen kleinen, dürren, runzligen, kriechenden Geldwechsler, einen wohlbekannten Mann, der in ganz Jerusalem wegen seiner hohen Wucherzinsen und seiner Grausamkeit gegen die Armen verflucht wurde. Wie kam ein so gemeiner Schurke dahin? dachte Barabbas verwundert. Doch er konnte nicht dabei verweilen, dieses Rätsel zu lösen. Die Hauptperson, die sein Auge unwillkürlich anzog und bannte, war der römische Richter, derselbe Richter, von dessen ernstem traurigem Gesicht er in der Finsternis seines Kerkers geträumt hatte, Pilatus, der ruhige, strenge, doch zuzeiten auch mitleidvolle Schiedsrichter über Leben und Tod, insofern dies mit den in Judäa herrschenden Gesetzbüchern der Gerechtigkeit in Einklang stand. Wahrlich, heute schien er zu leiden oder müde zu sein! Hatte je ein gesetzlicher Tyrann einen unglückseligeren Eindruck gemacht? In dem grauen Morgenlicht schienen seine Züge von todesartiger Starrheit und Blässe befallen. Seine Hand spielte geistesabwesend mit dem kostbaren Siegel, welches von seiner Brust herabhing, und unter den herabwallenden Falten seines Amtskleides stampfte ein mit Sandalen versehener Fuß ungeduldig auf den Boden. Barabbas stierte ihn halb bestrickt, halb furchterfüllt an. Obwohl er wenig das Aussehen eines grausamen wie melancholischen Menschen trug, lag doch etwas in seinem klassischen Profil und den entschlossenen Linien um die dünnen, fest aufeinander gepressten Lippen, die wenig Milde des Charakters bekundeten. Wie würde wohl sein Spruch über einen Mörder lauten, der einen seiner Freunde erschlagen hatte? Während Barabbas so still vor sich hin grübelte, erhob sich urplötzlich ein gewaltiges Geschrei aus der Menge um ihn herum, das wie das Getöse stürzender Wassermassen mit donnerartigem Gebrause in der gewölbten Halle erschallte.

»Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!«

Das wilde, wuterfüllte Geschrei, dessen lärmende Forderung die ganze Luft durchzitterte, erweckte Barabbas aus seiner Betäubung und Lethargie, die ihn immer noch mehr oder weniger umfangen hielt. Wie einer, der aus dem Schlaf gerüttelt wird, kam er mit einem heftigen Ruck wieder zu sich.

»Kreuzige ihn!«

Kreuzigen — wen? Wessen Leben wurde mit solcher Leidenschaft gefordert? Nicht das Seinige? Nein, sicherlich nicht, denn die Leute beachteten ihn kaum. Ihre Blicke waren alle nach einer anderen Richtung gewandt. Doch wenn er nicht der Missetäter war, wer war es dann?

Sich noch mehr nach vorne drängend, verfolgte er die zornigen Blicke des Pöbels und sah geduldig neben dem Richterstuhl eine Gestalt stehen. Er sah und hielt seinen Atem vor Verwunderung an. Denn diese Gestalt schien die ganze Erhabenheit, Reinheit und Majestät des stolzen, herrlichen Gerichtshofes sowie das ganze Licht, das schimmernd durch die leuchtenden Fenster fiel, ein Licht, das gerade anfing, sich zu den verheißenden Strahlen der Sonne zu bilden, in sich zu vereinen. Solcher Glanz, solche Macht, solche glorreiche Verschmelzung vollkommener Schönheit und Kraft in einer menschlichen Gestalt hatte Barabbas nie gesehen noch geträumt, und er blickte und blickte, bis seine Seele sich in dem bloßen Bestreben zu sehen fast zu verlieren schien. Da hörte er sich selbst flüstern:

»Wer ist der Mensch?«

Keiner antwortete. Mag sein, dass es niemand hörte. Wieder und wieder stellte er sich verwundert dieselbe Frage, in dem er seine Augen auf jenem schlanken, gottähnlichen Wesen haften ließ, dessen erhabener Anblick eine unumschränkte Gewalt über Menschen und Dinge anzudeuten schien, der sich aber nichtsdestoweniger schweigend dem Gesetz unterwarf mit einem schwachen, träumerischen Lächeln um die schön geschwungenen Lippen und einem geduldigen Ausdruck der niedergeschlagenen Augen, als ob er die öffentliche Erklärung von etwas erwarte, was er im Geheimen selbst beschlossen hatte. Wie eine sonnenbeschienene Marmorstatue stand er da, hoch aufgerichtet in vornehmer Ruhe. Die weißen Gewänder fielen in malerischen Falten über seine Schultern zurück, so dass die entblößten, runden Arme freigelegt wurden, die, in stiller Ergebung auf der Brust gekreuzt, trotz ihrer Untätigkeit eine mächtige, herkulische Muskelkraft bekundeten. Macht, Größe, Autorität und sieghafte Überlegenheit drückten sich schweigend in seiner wunderbaren, unvergleichlichen Gestalt aus. Während Barabbas ihn immer noch voll Ehrfurcht, Entzückung und innerer Unruhe anstarrte, brach das heisere Geschrei des Pöbels mit frischer Kraft und wilder Ungeduld von neuem los:

»Weg mit ihm! Weg mit ihm! Lasse ihn kreuzigen!«

Und weit hinten, am äußersten Rand der Menge, erhob sich eine liebliche, helle, durchdringende Frauenstimme, die in grausamem Klang das tiefere Getöse übertönte:

»Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!«

IV

Der klare, vibrierende Ton dieser Frauenstimme wirkte wie ein seltsamer Zauber, um die schon fieberhafte Erregung des Volks noch mehr aufzustacheln. Ein wahnsinniger Aufruhr erfolgte, Schreien, Brüllen, Johlen, Zischen erfüllte die Luft, bis der Lärm geradezu betäubend wurde und Pilatus sich plötzlich erhob, um dem Pöbel mit einer zornigen, gebieterischen Gebärde entgegenzutreten. Sich vor den Richtstuhl stellend hielt er befehlend die Hand empor und gebot Schweigen. Allmählich verzog sich das Getöse und erstarb in kurzen, grollenden Tönen zu einem fast unhörbaren Gemurmel. Doch ehe die Ruhe ganz wieder hergestellt war, ertönte noch einmal die liebliche Sopranstimme, gefolgt von einem melodischen, perlenden Lachen:

»Kreuzige ihn!«

Barabbas fuhr zusammen. Dieses silberhelle Lachen traf ihn mit Eiseskälte im innersten Herzen. Er schauderte, war es ihm doch, als hätte er schon einmal einen Ausbruch dieser spöttischen Lust gehört. Es schien ihm so bitter und doch so wohlbekannt. Pilatus’ scharfe Augen blitzten auf in vergeblichem Suchen nach der unsichtbaren Sprecherin, dann wandte er sich mit einer Miene ernster Würde an das Volk und fragte:

»Was hat er denn Übles getan?«

Die einfache Frage war offenbar schlecht angebracht und hatte eine verhängnisvolle Wirkung. Die einzige Antwort war ein lautes höhnisches Gebrüll, ein donnerartiger Ausbruch wilder Wut, der den Gerichtshof bis in seine Grundfesten erschütterte. Männer, Frauen und kleine Kinder fielen in das Geschrei ein: »Kreuzige ihn!« und der wilde Ruf wurde selbst von den Hohepriestern, Ältesten und Schriftgelehrten aufgenommen, die in ihren verschiedenartigen Kostümen, umgeben von ihren Begleitern, um den Richtstuhl des Pilatus gruppiert waren. Pilatus hörte sie und wandte sich scharf um. In finsterem Stirnrunzeln zog er die Brauen zusammen. Kaiphas begegnete seinem Blick mit mildem Lächeln und wiederholte leise vor sich hin, als ob es ihm ein angenehmer Gedanke wäre: »Kreuzige ihn!«

»Wahrlich es wäre gut, wenn er des Todes stürbe«, murmelte Annas, sein stattlicher Kollege, indem er unter seinen hellen Augenwimpern hervor Pilatus verstohlen ansah. »Der würdige Landpfleger scheint zu zögern, doch dieser Verräter ist wahrlich kein Freund des Kaisers.«

Pilatus würdigte ihn keiner Antwort und warf ihm nur einen Blick grenzenloser Verachtung zu. Mit den Achseln zuckend nahm er seinen früheren Sitz wieder ein und schaute den Angeklagten lange und ernsthaft an. »Was hat er Übles getan?« Besser hätte er wohl gefragt, was hätte Er Übles tun können? Lag ein Schatten von Gemeinheit, ein Zug von Verräterei auf der offenen Schönheit jenes reinen, strahlenden Angesichts? Nein! Hoheit und Wahrheit sprachen beredt aus allen Zügen; auch lag etwas in der schweigenden Gegenwart des Gefangenen, was Pilatus erzittern ließ, etwas Ungesprochenes und doch Empfundenes, ein ungeheures, unbestimmtes Geheimnis schien Ihn zu umgeben und sein ganzes Wesen mit einer Gewalt zu durchdringen, das umso schrecklicher wirkte, als es so tief verborgen war. Während der beunruhigte Landpfleger sein ruhiges, würdevolles Gebaren beobachtete und sich mit Zweifeln quälte, welchen Lauf er am besten verfolgen würde, starrte auch Barabbas von seinem günstigen Posten aus in derselben Richtung, und mehr und mehr wurde er sich einer bestrickenden Anziehungskraft jenes Menschen bewusst, den das Volk zu erschlagen suchte.

(...)


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