Der Okkultist ist von dem Heiligen gänzlich verschieden
Wer die Pfade des Geistes wandeln will,
darf weder mit Zeit und Raum rechnen,
noch soll er das Erlangen höherer Erkenntnis
an einen Zweck binden, und sei es auch der edelste.
Alles kommt zu seiner Zeit.
Er möge nur emsig suchen, streben und bitten;
wenn die Zeit erfüllt ist,
steigt das himmlische Mysterium
zu ihm hernieder und erhebt ihn.
H. B. Andramoi
Aus Gesprächen mit Klienten und Briefen von Lesern weiß ich, dass oftmals an Eingeweihte wie Balinûs, besser bekannt als Apollonius von Tyana, Karl von Eckartshausen, Eliphas Lévi, Papus oder Julius Evola das Maßband der Heiligen angelegt wird, was zwingend zu herber Enttäuschung führt. Okkultisten geben ein anderes Bild ab als die Heiligen, darum ist es ratsam, beide voneinander zu unterscheiden und sich selbst zu fragen, durch welches Fahrwasser man das eigene Schiff zu steuern gedenkt. Der Heilige sucht Gott nicht im Erkennen und Wissen, sondern eher mit der Intuition seines Herzens, ein Heiliger wird getragen von Hingabe, Friedlichkeit und Güte. Er ist bestrebt, seinen persönlichen Willen schon auf Erden aufzulösen und bettet sein Haupt in orthodoxer Geborgenheit, will den Gesetzen eines erwählten Kultes Folge leisten, will wie ein Kind gehorchen, ohne die Gesetze verstehen zu müssen. Der repräsentative Heilige glaubt an Wunder und trinkt den von einer höheren Kraft beseelten Wein auf der Hochzeit zu Kana.
Anders der Okkultist: Er mystifiziert Christus nicht, er erkennt Gottes wirkendes Werkzeug in ihm, folgt ihm nach, schaut auf seine Hände und lernt Wasser in Wein zu verwandeln, ohne selbst davon trinken zu wollen. An die Stelle von kindlicher Hingabe an Gott rückt greisenhafte Ehrfurcht und ein Drang nach dem Erkennen und Anwenden kosmischer Gesetzmäßigkeiten. Schließlich zeigt sich sogar sein Streben nach Ebenbürtigkeit mit dem Allmächtigen. Wegen der Synthese von Logos und Gott fehlt dem typischen Eingeweihten der Rausch heiliger Ekstase. Er hütet sich sogar davor, will sich nicht von falschem Glanz blenden lassen, will göttliche Entzückung nicht zu früh erleben, nicht bevor er an den höchsten Thron der Herrlichkeit geschritten ist. Also umweht den Adepten stets etwas Nüchternes, etwas nicht Einsortierbares, vielleicht auch etwas Humorvolles, Scharfzüngiges, Treffsicheres, das sich aus seiner erdenfernen Weisheit speist. In ihm herrscht ein Bedürfnis nach kosmischer Intelligenz, nach Pansophie, also nach umfassender Weisheit; er begehrt Wissen um das Sein an sich, darum kennt seine Seele keine ausgedehnte Ruhe am Wegesrand, seine Bewegung ist ein auf Wolken gehendes, stets eiliges Voranschreiten. Auch ist er nicht in der Lage, anderen Menschen oder vorgefassten Regeln der Zwischen-menschlichkeit Gehorsam zu zollen. Er unterzieht sich einem Gesetz erst, wenn er sich den Gottesursprung dieses Gesetzes selbst unter Beweis gestellt hat. Die glücklichste Philosophie liegt für ihn nicht im Hinnehmen des eintreffenden Geschehens, sondern darin, den inneren Beweggrund dessen herauszufinden. So gleicht er dem keltischen Magier Merlin, der hinter den Schleiern der Zeit arbeitet und die Begrenztheit der menschlichen Vernunft durchbricht. In den Zwischenräumen des Daseins findet er Treppen und Leitern, auf denen er das schlafende Jakobsein auflöst und mehr erfährt als den Traum von kosmischen Hierarchien. Er selbst reckt sich aus der Waagerechten in die Senkrechte empor und mischt sich unter die vielen, die dem Gesetz Gottes zuliebe hernieder und hinauf schreiten. Wegen dieser bewusst eingesetzten Hybris erfährt ein Eingeweihter zyklisch die Metaphysik des Scheiterns, auf die er freilich nicht verzichten will. Denn nichts verleiht ihm mehr Ansporn als sein eigenes Versagthaben. Daher plant er Rückschläge ein, lässt sich aber von ihrer Unvermeidlichkeit zu keiner Zeit in die Verzweiflung stürzen.
Wenn er zwei Sprossen
von der Leiter fällt,
atmet er tief durch
und steigt drei wieder hoch.
Sein Ziel bleibt beständig dasselbe: Das immerwährende Streben nach der Unsterblichkeit seiner Seele und ihre Vermählung mit dem Geist des Alls. So befreit er nacheinander Dämon für Dämon aus dem finsteren Brunnenschacht seiner Unvollkommenheit. Weder Unverstand noch Spott von Seiten ahnungsloser Erdenbürger, weder Fluch noch Verfolgung durch Neider untergraben seine Aufrichtigkeit und seinen Optimismus, weiß er doch sehr genau um sein Sondersein. Er trägt dieses Stigma mit der Unerschütterlichkeit eines Geweihten und betet mit dem heiliggesprochenen Thomas von Aquin, der gleich ihm, ebenso ein Gottesmann wie ein großer Denker war, dem Okkultisten dadurch näher als dem Heiligen:
Lass mich in Glück und Unglück treu zu Dir stehen, im Glück demütig, im Unglück stark und ungebeugt. Nur was zu Dir mich führt, soll meine Freude sein; nur was von Dir mich trennt, soll mich betrüben. Gib, dass ich niemanden zu gefallen suche und keinem zu missfallen fürchte als Dir allein. Was vergänglich ist, O Herr, das sei gering in meinen Augen; doch kostbar sei mir alles, was Dein ist, um Deinetwillen; und über alles andere sollst Du selbst mir kostbar sein, O Herr, mein Gott. (Hl. Th. von Aquin)
Der Prototyp eines Eingeweihten, dem alle Okkultisten nachstreben, gleicht Vergil und Dante in einem: Dort, wo die meisten verzagen, wischt er sich mit Morgentau den Ruß der Hölle vom Antlitz und steigt unter Aufwendung seiner erworbenen Stärke den Letheschacht empor, um auf den Gesimsen Läuterung zu finden durch geistige Riten. Auf dem Berg der Engel, unter den Strahlen der südlichen Sonne, werden ihm die Sünden, die er in sich selbst hat erkennen dürfen, von der Stirn genommen. Der Einweihungsweg ist im Prinzip seit jeher derselbe. Auch heutzutage gibt es Tempelritter, Gralssucher und Rosenkreuzer, wer danach ernsthaft sucht, der findet diese auch.
Gabriele Quinque