Pluto – Der Gott der Unterwelt und seine Faszination
Urplötzlich kann es geschehen: Zwei Augenpaare öffnen zu der gleichen Zeit die Lider, und die Pupillen knüpfen ein Band, auf dem Mysterienfackeln ausgetauscht werden. Ein Blick nur, und das Unfassbare durchdringt die Mauern des Fassbaren. Was ist passiert? Bekannte unter den Unbekannten, Menschen unter Leuten, sind sich begegnet. Zwei Menschen, die in hohem Maße Charisma besitzen, schauen sich an. Das winzige ebenso abgründige wie heilige Lächeln, das sich daraufhin in die Mundwinkel schleicht, entspringt einem Wiedererkennen, dessen uralte Vertrautheit sich wortlos einem tiefgründigen Dialog hingibt. Das Verbindende zwischen beiden ist das Charisma. Aber was ist das? Woher kommt es?
Charisma kommt aus der Unterwelt
Charisma wird sichtbar in Worten, Gesten und Gebärden eines Menschen. Doch sind es nicht die Worte, Gesten und Gebärden, die Charisma erzeugen, denn Charisma lässt sich weder einüben noch herbeizwingen und schon gar nicht erkaufen. Es wohnt still, dauerhaft und verlässlich im Hintergrund einer Person. Wer Charisma hat, drückt es von Anfang bis zum Ende seines Lebens aus. Schon als Baby in der Wiege lässt er es von innen nach außen dringen und fasziniert damit seine Umgebung, denn Charisma schimmert durch jede Form hindurch wie die Goldschicht unter den Heiligen von Ikonen. Charisma ist mehr als gute Ausstrahlung. Man weiß nicht genau was es eigentlich ist, aber jenes unsagbare Etwas zieht unweigerlich in den Bann. Wer einem charismatischen Menschen begegnet, steht vor einem Geheimnis, dessen Unergründlichkeit tiefere Schichten seiner eigenen Seele berührt. Diese Erfahrung kann sowohl Angst als auch Freude auslösen, das hängt ganz davon ab, inwieweit der Mensch mit seinen eigenen verborgenen Schichten vertraut ist. Diese Begegnung wird immer ambivalent sein, denn der charismatische Mensch schafft eine Atmosphäre, in der man sich zu Höhenflügen aufschwingt oder es öffnet sich ein grauenvoller Abgrund, in den man hinabstürzen kann. Das liegt daran, dass er selbst sowohl einen sehr bewussten Zugang zum Himmel als auch zum eigenen Abgrund besitzt. Blickt man in die Biographie solcher Menschen, die als Schauspieler, Sänger, Politiker, etc. oftmals im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, so wird sehr schnell klar, dass ihr Schicksal von Katastrophen und dramatischen Erlebnissen überdurchschnittlich häufig heimgesucht wird. Ihre Wesensnatur entspricht niemals dem friedliebenden Bild eines ordentlichen Bürgers, dessen Leben nicht sehr viel mehr als die Grundbedürfnisse befriedigt. Charismatische Menschen sind mutig genug, auch ausgefallene Charakterzüge am Rande der Legalität auszuleben und diese mutig in das Rampenlicht zu stellen. Ihr Verhalten kann provokant, demagogisch und machtergreifend sein, was jedoch in ihrem Fall dann nicht nur toleriert sondern sogar ausgesprochen geschätzt wird. Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Stärke, Größe, Ehrgeiz und Konsequenz sind mit Sicherheit anzutreffen, niemals aber Unaufrichtigkeit, Heuchelei, Duckmäuserei oder Feigheit.
Der charismatische Mensch ist sich also seiner selbst bewusster als andere, und dies legt den Verdacht nahe, dass er den eigenen Abstieg in die Welt der verdrängten Schatten schon gewagt hat und bis zum Wesentlichen vorgedrungen ist. Darin zeigt sich das Prinzip des Pluto (grch. Hades), der in der Mythologie als Gott der Unterwelt bekannt ist. Verfolgt man die Spur von Charisma also lang genug, so erreicht man den Hades als Hauptwohnsitz des Charismas, welches der Gott der Unterwelt selbst auch im Höchstmaß besitzt.
Die Lüge zerfällt in der Unterwelt
Der Mythos berichtet: Pluto ist ein Zeus und Poseidon ebenbürtiger Gott, machtvoll und souverän, mit einer faszinierenden Ausstrahlung, aber für die Menschen hat er zunächst etwas sehr Erschreckendes. Solange ein Mensch sich allein mit seiner sichtbaren Lebendigkeit identifiziert, muss der Abstieg in das Schattenreich des Hades angsterregend sein. Denn dort endet alle menschliche Täuschung. Der Mensch kann in seinem Leben sich selbst und andere ein Leben lang an der Nase herumführen, aber wenn er nach seinem Tode von Hermes vor den Gott der Unterwelt geführt wird, bleibt nur das Wesentliche übrig. Und hier klärt sich dann, ob der Mensch schon gelernt hat, sich mit dem Ganzen zu identifizieren oder ob er sich an der Illusion seiner Ich-Struktur festklammern möchte. Im letzteren Fall konfrontiert Pluto gnadenlos mit der Wirklichkeit und entthront den falschen König.
Bleibt dann nichts übrig, das dem Ganzen nützlich ist, zerfällt die Persönlichkeit in unerlöste Schattenanteile, die im Hades verweilen müssen, bis jemand kommt, der seinen Beitrag an das Sein der ganzen Schöpfung schon bereit ist zu leisten, da er sich nicht nur ausschließlich mit der vordergründigen Sichtbarkeit beschäftigt. Das Wissen um diesen Sachverhalt fördert das Grauen bei denjenigen Menschen, die insgeheim wissen, dass sie etwas Wichtiges im Leben vergessen haben. Die Gänsehaut kriecht ihnen über den Rücken, sobald sie einem der Plutorepräsentanten begegnen wie z.B. Spinnen, Schlangen und Ungeziefer als Urgrauen-Symbol für das kollektive Unbewusste, Weihrauch als Opferbereitschaft, Maden oder Raupen als Symbol für die Verwandlung.
Jeder Mensch hat sein ganzes Leben lang die Möglichkeit, sich von den Unterweltgöttern (Pluto, Persephone, Dionysos, dem grünen Osiris, etc.) bei der Metamorphose in ein bewusstes Wesen helfen zu lassen. Wer sich plutonischen Prozessen ganz hingibt, wird tatsächlich über die „Qual zur Qualität“ geführt. Große Opferbereitschaft muss er zeigen, denn Pluto verwandelt Unpassendes in Passendes, Überlebtes in Neues. Das Geheimnis liegt hier im Hergeben von Dingen, an die man sich zwar gewöhnt hat, die aber ihren Zweck eigentlich nicht mehr erfüllen. Wenn Hades etwas zerfallen lassen möchte, dann lohnt sich der Widerstand nicht. Hades kennt keine Rührseligkeit. Er fordert alles und duldet kein Nein. Sein Ziel ist geistige Erneuerung, größere Bewusstheit, und davon lässt er sich durch nichts abbringen. Gnadenlos nimmt und zerstört er, was morsch und brüchig ist. Das mag zunächst schmerzhaft sein, aber wenn das Werk der Verwandlung vollzogen ist, ersteht der Phönix aus der Asche auf, schüttelt sein neues Gefieder und dankt dem Priester für das Ritual der erlebten Wiedergeburt!
(Seelen werden von Hermes vor Pluto und Persephone geführt)
Tabus brechen mit Pluto
In diesem Sinne ist Pluto der Einweihungsgott, der dem Menschen unter anderem hilft, Tabubereiche individuell zu brechen, zu bearbeiten und zu erlösen. Solche Eigenschaften wie Macht, Geltungsbedürfnis, Besitzanspruch, Obsessionen und Egoismus sind nur dann von dem Geruch grotesker Peinlichkeit begleitet, wenn sie dem, der sie hat, nicht als solche bekannt sind und er sie in den Mogelpackungen falscher Güte, verlogener Hilfsbereitschaft oder sozialer Inkompetenz verpackt. Wird hingegen das Machtpotential beherrscht, dann kann der Mensch in vielen Situationen darauf verzichten und an bestimmten Stellen seinen Machtanspruch bewusst ausleben und gleichzeitig dem Kollektiv opfern. Denn eine Verschmelzung mit dem Ganzen ist das Hauptanliegen von Pluto. Der Plutostand im Geburtshoroskop zeigt an, auf welcher Ebene der Beitrag für das Kollektiv gebracht werden muss.
Der Transit durch ein Haus reinigt die entsprechende Ebene von Lügen und Verdrängungen. Pluto zerstört den Eigennutz und fördert die bewusste Hingabe an alles, was existiert und handelt. Ist dafür eine grundsätzliche Bereitschaft da, „speist man drei Granatapfelkerne“, bleibt mit dem Hades in verbindlichem Kontakt und erfährt eine gewaltige Kraft, die sich in der sichtbaren Welt als überdurchschnittliche Leistung und Charisma ausdrückt. Probleme mit Pluto bekommt erst derjenige, der eine Kraft, die allen gehört, weil sie aus dem Reich des Wesentlichen kommt, für sich selbst verwenden möchte. Wer unter einem Plutotransit sein Hab und Gut verliert, kann sicher sein, dass er die magische Kraft seiner Vorstellung für die falsche Ebene verwendet hat: für seinen Besitzanspruch und die Bequemlichkeit des Ego! Pluto zeigt nur Konsequenzen von eigenen Handlungen auf, er und konfrontiert völlig unsentimental anhand einer „Karikatur der Schicksalsmacht“ mit der Realität über den eigenen Wert.
Pluto weiht in die Mysterien ein
Der unbestechliche Pluto zerstört die Einbildung und legt seine apodiktischen Finger in die Wunde der Unehrlichkeit. Pluto sorgt z. B. dafür, dass jene spezifische Pflanze aus dem Samenkorn hervorkommt, die wirklich auch darin enthalten ist. Ein Radieschensamen muss Radieschen hervorbringen und keine Rosen. Dies gilt ebenso für den menschlichen Charakter. Eigendünkel und Abweichungen von diesem Muster unterbindet Pluto mit harter Miene und unerbittlich strenger Hand. Er verwickelt seine Jünger so lange in Leid und Entbehrung, bis ein Verstehen in seinem Sinne aufkeimt. Wenn das Muster sich in der vorgegebenen Norm auszudrücken bereit ist, wandelt Pluto seinen Sinn, zerstört nicht mehr, sondern fördert das gesunde Wachstum und nährt die Dinge von innen her.
An dem Verständnis dieser Zusammenhänge arbeiteten in früheren Kulturen jene Initiationsriten, die dem Hades geweiht waren wie z.B. die Eleusinischen Mysterien. Der in die plutonischen Mysterien eingeweihte Mensch findet alle düsteren Eigenschaften in seiner eigenen Brust und befreit sein Bewertungssystem von äußeren Projektionsflächen, bis er eines Tages in der Lage ist, die Welt so zu sehen wie sie ist; und anstatt die Welt in der Form verbessern zu wollen, schenkt er dem Inhalt seine Erkenntnisse und auch seine Macht. Dann ist Pluto zugeneigt, er wandelt sich für immer zum Freund der durch viele Verkörperungen wandernden Seele und unterstützt seinen Schützling bei seinen Vorlieben und Taten. Das ist das Gnadengeschenk, das Charisma.
Als orphischer Myste wartet der Mensch nicht bis zu seinem natürlichen Tod und tritt bereits in seinem Leben als Mysterienkandidat in den Hades ein. Da er zuvor geschult und geprüft wurde, hat er schon aus der Quelle der Mnemosyne getrunken, und das Wasser des Vergessens verliert die Wirkung. Mnemosyne sorgt dafür, dass der rote Faden des Gedächtnisses erhalten bleibt. Diese Reife wird von allen Unterweltgöttern mit Anerkennung belohnt. Wer so in das Seelenwasser der Menschheit eintaucht, erfährt eine Kraft, die sich von Inkarnation zu Inkarnation besser zu sammeln versteht, bis eine Individualität entstanden ist, die viele Zeiträume des Bewusstseins überblicken kann und gelernt hat, sich mit verschiedenen Ich-Strukturen zu identifizieren. Darin liegt das Ziel der plutonischen Züchtigung, und es macht viel Sinn, diesem Prinzip selbstbewusst entgegenzugehen, anstatt ihm ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Bis eines Tages der Satz „Ich und mein Vater sind eins“ kein Zitat Jesu mehr ist, sondern ein für den Menschen erfahrbarer Zustand.
Das wussten die Alten, darum verfassten sie Hymnen und Dramen, die allesamt nur einem Zweck geweiht waren: dem Wunsch, die Prinzipien anzurufen, denen der Mensch sich unterwerfen muss, um zu wahrer Größe und Schönheit zu gelangen
Nicht weniger als das Thema der Wiedergeburt wird von den Unterweltgöttern verwaltet. Wiedergeburt hat nichts mit körperlichem Sterben und Todsein zu tun. Es ist zu jeder Zeit pures Lebendigsein dazu nötig, denn gemeint ist die Verwandlung des stofflichen Menschen in einen bewussten Träger des Geistigen!
An Pluton
Kühnbeherzter, der da wohnt
In dem unterirdischen Haus,
In der Tartarusgäste
Tiefschattiger, grauenblickender Au,
Szepterträger, des Erdreichs Zeus,
Nimm in Gnaden das Opfer auf!
Pluton, der du des Erdenreichs
Schlüssel bewahrst und das Menschengeschlecht
Reich beschenkst mit den Früchten der Jahre,
Du erlangtest vom dreifachen Los
Die Altkönigin Erde, der Unsterblichen Sitz
Und der Menschen mächtiges Bollwerk.
Du baust deinen Herrscherthron
Drunten im dunklen Land,
In dem weitgedehnten,
Balsamhauchenden unermüdlichen,
Unermesslichen Hades
Und am finsteren Acheron,
Der die Wurzeln der Erde hat.
Walter der Gnaden des Todes den Menschen,
Vielaufnehmender Eubulos,
Der einst von der Wiese geraubt
Der keuschen Demeter Kind
Vierspännig herab durch des Meeres Schlund
Zur Hochzeit in Atthis Höhlen
Im eleusinischen Gau:
Dort sind die Pforten des Hades.
Ein Richter der offnen und heimlichen Werke
Wardst du erwählt, du Gotterfüllter,
Allherrscher, Heiligster, glänzend an Ehren
Gnädig den reinen Feiern gesinnt
Und den gottesfürchtigen Frommen
Hör mich, ich rufe dich an:
Güte und Gnade erzeige den Mysten!
(Orphische Hymne)
Gabriele Quinque