Aphrodite – Der Himmel auf Erden
Die Entstehungsgeschichte Aphrodites (röm. Venus) ist einzigartig unter den Göttern. Sie wird nicht gezeugt, sie bildet sich aus einem besonderen Schaum. Der Mythos berichtet: Uranos, dem höchsten göttlichen Prinzip ist es ganz und gar nicht recht, dass er selbst den Urkeim für ein zunächst fein- und später sogar grobstoffliches Universum liefert, obwohl dies die Wahrheit ist.
Uranos, das ist reinster Himmel, hell und klar. In Uranos begegnen wir noch einem Schöpfergott, der sich den Dauerstress, den ein nach Manifestation schreiendes Universum zwangsläufig mit sich bringt, im Grunde seines Herzens ersparen möchte.
Aber Uranos kann seine Energien doch nicht so weit zurückhalten, wie dies nötig wäre, um die Weltentstehung von vornherein zu verhindern. Denn obwohl seine göttliche Liebe eine kühle unpersönliche Himmelskraft sein sollte, ist er Gaja, dem weiblichen Schöpfungsprinzip mit einer Liebesglut verfallen, die den polaren Rhythmus in das Spiel der Welt bringt, da der helle Himmel sich immer dann verdunkelt, wenn er Gaja begehrt. Und in nächtlicher Umarmung mit Gaja zeugt Uranos unweigerlich Kinder. Doch hasst er seine eigenen Emanationen und verbirgt deshalb diese Kinder tief in den dunklen Höhlungen des Erdenbauches, damit sie "das Licht der Welt nicht erblicken", also nicht leben sollen. Aber, ob Uranos es will oder nicht, er hat nun einmal das erste Schöpfungsgeschlecht gezeugt. Es sind die sogenannten Titanen (Prometheus, Demeter, Kronos, etc.), aus welchen jene Archetypen (Zeus, Poseidon, Hades) hervorgehen, die später den Olymp, das Meer und die Unterwelt beherrschen werden.
Grob gesprochen trägt Uranos die Kraft zur Schöpfung in sich, die Titanen liefern die Idee, und die Archetypen strukturieren die Idee, damit die "jungen Götter" (Ares, Aphrodite, Hermes, Helios, etc.) mit dem Werk jener astralen Ausformung beginnen können, die gebraucht wird, um eine materiell anfassbare Verdichtung im Reich der menschlichen Existenzform herzustellen. Aus dieser Sicht ist es nötig, dass Kronos (=Saturn) die Macht seines Vaters bricht und sich selbst an seine Stelle setzt.
Um weitere Emanationen des Uranos zu verhindern schneidet der Sohn das Zeugungsglied des Vaters mit einer Sichel ab. Dies entmannt nicht nur Uranos, sondern auch den göttlichen Schöpfungsakt. Von nun an tritt das weibliche Prinzip der Werdung und der Erstarrung in den Dienst der stufenweisen Verdichtung himmlischer Energien.
Jetzt kann nichts mehr unmittelbar in das höchste Geisteslicht, wie es noch in Uranos zu finden ist, zurückfließen. Jeder schöpferische Atemzug muss ganz hinunter in die dichteste Stofflichkeit, um überhaupt die Lust auf den Rückweg in den Himmel wahrzunehmen. Die himmlische Liebe fällt hinunter bis in das Urmeer, aus dem alles hervorgeht. Dieser Vorgang wird metaphorisch eingekleidet: Das abgetrennte Zeugungsglied des Uranos fällt in das salzige Wasser des Meeres. Um das Glied herum bildet sich ein plasmatischer Schaum. Das Wasser beginnt damit, eine festere Substanz zu bilden, und aus dieser amorphen Matrix kristallisiert sich Aphrodite heraus.
Als sie zu voller Schönheit herangereift ist, entsteigt sie der Flut der Urfeuchte und geht an Land. Mit Aphrodite ist der natürliche Prozess des Erblühens geboren, weshalb wir hören, dass sofort junges Grün aus dem Boden sprießt, als Aphrodite einen Fuß auf den Boden setzt. Darin zeigt sich ihr Auftrag: Sie verwandelt die schöpfende Hochpotenz des höchsten Himmels in die konkrete Schönheit der sichtbaren Natur. Aphrodite zieht den überpersönlichen Geist der oberen Regionen bis auf den materiellen Boden hinab.
Dieses zeigt sich noch einmal deutlich in dem astrologischen Symbol der Venus. Der kosmische Kreis der Erde wird von dem Kreuz der Materie nach unten gezogen. In Aphrodite lebt noch das Bedürfnis von Uranos nach ungeteilter Einheit und seine unbändige Lust auf die Vereinigung mit der Erdmutter Gaja, um die Einheit aufrechtzuerhalten. Aus diesem Entstehungsmythos heraus lässt sich gut verstehen, warum Aphrodite als Urprinzip alles miteinander in Beziehung bringen will.
Aphrodites Schönheitssinn
Im Namen Aphrodites pulsiert das Glück jeglicher Vereinigung. Die liebreizende Wonne der Götter und der Menschen wird sie genannt. Sie lenkt den Kreislauf der Natur durch die Befruchtungswünsche aller Kreaturen. Schönheit, Anmut und Sinnlichkeit sind von Anbeginn ihres Daseins die wichtigsten Eigenschaften, wie sie allen Liebesgöttinnen gut zu Gesichte stehen.
Aphrodite bzw. Venus inspiriert nicht nur die Künstler zu ausgewogenen, ästhetischen Formen, sondern wünscht sich auch im Alltag der Menschen erlesenen Stil und gutes Benehmen. Wenn auch all ihre Bemühungen nur der Abglanz des Himmels sind, so ist unsere irdische Welt mit Hilfe von Aphrodite tatsächlich auch wirklich solange schön, bis sie von anderen Urprinzipien eingeschränkt oder gar zerstört wird.
Aphrodites Traum vom siebten Himmel
Gleichsam will Aphrodite alles und jeden unmittelbar in den siebten Himmel bringen, zurück zur höchsten Einheit also, weil sie eben von dort gekommen ist. Aber Aphrodite trägt auch die Verzweifelung in sich, dass ihr dies immer nur für ganz kurze Augenblicke gelingt. Denn eine andauernde Verschmelzung der Gegensätze ist innerhalb der fein- und grobstofflichen Welten unmöglich. Wie sehr sie auch bemüht ist, solche Dinge miteinander zu vereinen, die als unvereinbar gelten, über kurz oder lang kommt es zu dem, was Aphrodite kaum erträgt: zum erneuten Bruch der von ihr zusammengefügten Teile!
Unermüdlich setzt sie dann ihren Eifer fort, neue Verbindungen zu schaffen, so als wäre sie in ständiger Hoffnung, den Himmel auf die Erde bringen zu können. Jedoch genau dieser Wunsch lässt sich nicht erfüllen, nur Aphrodite will das nicht wahrhaben. Sie vereinigt sich selbst gerne mit ihren Gegensätzen, allen voran wäre Ares zu nennen, der als Kriegsgott das ganze Gegenteil ihrer eigenen Absicht verkörpert. Aber wie beglückend die Überwindung der großen Kluft zwischen diesen beiden Göttern auch für eine Weile sein mag, zugunsten der dualen Spannung innerhalb der Schöpfung werden sie wieder getrennt. In diesem Fall wird Aphrodite sogar selbst Opfer des Dualitätsgesetzes. Freilich ändert auch diese Erfahrung nichts daran, dass sie weiterhin versucht, das Paradies der Einheit innerhalb der Schöpfung zu verwirklichen. Jahrmillionen von Misserfolgen halten sie nicht davon ab, anhaltenden Liebesrausch und ewigen Frieden in alle Dimensionen der Schöpfung hineinbringen zu wollen. Sie träumt wie Uranos von dem ungeteilten Urzustand, der sich jedoch weder durch gute Worte noch durch die Vermischung von Schleimhäuten erreichen lässt.
Wie lange ein venusischer Kuss auch dauert, wie viel Liebe dabei auch empfunden wird, Aphrodite muss damit leben, dass jeder körperliche Kuss an der Zeitlichkeit stirbt.
Und genau das fällt ihr schwer, weswegen sie die verschiedensten Teile der Schöpfung immer wieder anregt, miteinander in Beziehung zu treten. Es ist als würde sie denken: "Wenn ich die Verschmelzung an genügend Orten gleichzeitig herbeiführe, kehrt vielleicht dauerhafter Frieden ein!"
Arme Aphrodite, sie ist rührend in ihrer Naivität und Liebessehnsucht. Doch es mangelt ihr an Selbsterkenntnis. Dies ist gut so, damit sie genau so bleiben kann und weiterhin versucht die Menschen auf Einklang abzustimmen. Damit wir den Genuss im Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Anfassen erleben können. Denn wüsste sie am Ende gar um die Kleinheit ihrer Liebesformen, wäre sie entsetzt und würde ihrer Rolle der Kupplerin im Pantheon der Archetypen nicht mehr gerecht werden können. Das wäre schlimm, denn alle Wesen üben an der kleinen Liebe, die große eines Tages ertragen zu können.
Aphrodites dunkle Seite
Aphrodite ist harmoniesüchtig und verlangt von allen, sie bei dieser Sucht zu unterstützen. Immerzu will sie Glück und Schönheit, Liebe und Streicheleinheiten auf Erden sehen. Doch gerade wegen dieser Fixierung sorgt die liebreizende Wonne mitunter für verhängnisvolle Situationen in den Reichen der Götter und ebenso in jenen der Menschen.
Die Göttin des hinreißenden Entzückens besitzt recht grausame Züge, die sie sorgsam hinter ihrer alles übertreffenden Schönheit verbirgt, die aber derjenige sofort zu spüren bekommt, der ihre Vorliebe für das sinnliche Dasein nicht gänzlich mit ihr teilt. Wehe dem, der sich von Aphrodite abwendet und materielle Genüsse opfert, um sich in einsamer Entsagung dem emotionsfreien Leben des Geistes zu widmen. Und wehe dem, der die Einseitigkeit eines männlichen Helden in seinem Leben verwirklichen möchte und sich ganz dem Okkultismus verschrieben hat! Auch wehe dem, der sein "Ich" zu lange lebt und nicht bereit ist, sich von einem "Du" ansprechen zu lassen! Aphrodite, die Göttin der Liebe reagiert - erstaunlicherweise völlig frei von schlechtem Gewissen - total lieblos, wenn sie sich durch Nichtbeachtung gekränkt fühlt. Sie ahnt viel von dem Geheimnis weltlicher Liebe, aber sie weiß nichts von der allgütigen, verzeihenden himmlischen Liebe. Aphrodites Liebe hat einen ganz und gar irdischen, also besitzergreifenden Charakter, und sie wird zu einer gnadelosen Femme Fatale, wenn der Mensch es versäumt, sich an ihrem Konzept von Hingabe und Lustbarkeit ausreichend zu erfreuen. Dann bestraft sie mit tückischen, hinterlistigen Mitteln, wie sie nur einer beleidigten Frau einfallen können.
Aphrodites Macht- und Druckmittel
Wer sich vor den venusischen Kräften drückt, sich nicht der Kunst, der Ästhetik, den ausgewogenen Lebensgewohnheiten im Allgemeinen und der Liebe im Besonderen hingeben will, der bekommt die Rache einer Göttin zu spüren. Ihre Druckmittel werden in der Mythologie sehr oft beschrieben. Und weil diese zu schmerzhaften seelischen Erfahrungen werden, treffen sie Götter, Helden und Menschen an empfindlichen Stellen. Aphrodite hat eine Art, sich über Umwege doch noch in das Leben eines Wesens zu bringen, die sehr qualvoll sein kann. Sie sorgt dann dafür, dass der Abtrünnige, der ihr den verlangten Tribut nicht zollt, sich in einem Liebesdrama wiederfindet, das die ganze Aufmerksamkeit, schlimmstenfalls das ganze Leben fordert.
So ergeht es zum Beispiel Hippolytos, den der Held Theseus mit einer Amazone gezeugt hat. Hippolytos lebt ein ganz und gar männliches Leben wie seine Eltern, muss jedoch als Sohn den Schatten der elterlichen Verbindung tragen und die weibliche Qualität des stofflichen Genusses in seinem Leben irgendwie verwirklichen, den schon die Eltern viel zu sehr vernachlässigt haben. Da er diesen Auftrag nicht erkennt und bewusst einlöst, sorgt Aphrodite mit verhängnisvollen Verstrickungen dafür, dass ihre Prinzipien hinterrücks in sein Leben treten und ihn letztlich zerstören. Seine Stiefmutter Phaidra verliebt sich in ihn und wirbt heftig um seine Sinnlichkeit. Hippolytos weist diese Liebe zurück, und Phaidra erhängt sich mit der verkehrten Nachricht für ihren Gatten, dass Hippolytos sie missbraucht hätte. Daraufhin sorgt dessen Vater Theseus im Verbund mit Poseidon dafür, dass Hippolytos von Pferden zu Tode geschleift wird.
Nun endet natürlich nicht jede Rache der Aphrodite gleich mit Tod. In abgeschwächter Form werden aus den venusischen Tauben "Dornenvögel", weil die Göttin dafür sorgt, dass sich die Tochter in ihren Vater verliebt, der Sohn in die Mutter, der Priester in ein weibliches Gemeindemitglied, der Lehrer in die Schülerin, die Frau in den besten Freund des Mannes und Klientin in ihren Therapeuten. Oder es besteht ein beträchtlicher Altersunterschied zwischen denen, die sich begehren. Vielleicht erlauben auch zwei Kulturkreisreise die Verbindung nicht, oder die Liebenden sind auf eine andere Art irgendwie in einem Verhängnis gelandet. Alle Beispiele tragen den Stempel von Aphrodites Rache.
Manchmal drängen sich auch andere Repräsentanten der Aphrodite in das Leben des Menschen hinein. Wer die Göttin zu lange unbeachtet lässt, weil er weder ihren Schönheitssinn noch ihre Liebenswürdigkeit lebt und auf keiner Ebene seines Daseins wirklich genießen kann, der bekommt die Dunkelseiten aus der Analogiekette der Aphrodite zu spüren. Der Mensch findet sich dann in einer Trägheit oder Lethargie wieder. Nichts macht ihm mehr so richtig Spaß, er ist einer Melancholie ausgeliefert, die ihm das Herz schwer macht und ihn an das Nichtstun kettet, ohne dies als Dolce far niente einstufen zu können. Findet die venusische Süße keinen Einlass mehr im seelischen Leben, weil der Mensch Aphrodites Themen gegenüber nicht mehr aufgeschlossen genug ist, verschafft sich die Göttin Zugang zur Zunge des Menschen und liegt zu häufig als süßer Schokoriegel auf den Geschmacksknospen. Dann wird der Mensch, der sich aus irgendeiner Angst oder Bequemlichkeit heraus nicht mehr um Aphrodites Neigungen kümmert, von ihr über Umwege zu Kohlenhydraten verführt und schwelgt in Genüssen, die ihn schließlich aber nicht glücklich, sondern nur dick und unzufrieden werden lassen. Alle Formen der Essstörungen sind genauso Schattenkämpfe mit Aphrodites dunkler Seite wie Wertprobleme, Geldprobleme, Beziehungsprobleme, Schönheitsprobleme. Aphrodite will nicht das ganze Leben eines Menschen, aber sie fordert ausreichend Beachtung, Lob und Dank wie eine anspruchsvolle Geliebte. Bekommt sie all das nicht, beginnt sie zu intrigieren wie eine betrogene Frau.
Aphrodites Güte
Zum Glück jedoch lässt die Göttin mit sich reden. Sie vergibt schnell und schaltet sofort wieder auf Milde und Güte um, wenn man ihr wieder entgegenkommt. Wer in einer unangenehmen Venusgeschichte festsitzt, sollte schleunigst die Repräsentanten der Göttin wieder dort in sein Leben hineinlassen, wo sie fehlen. Die Fragen, die sich der Mensch dann stellen könnte, lauten: Sieht meine Umgebung aus wie ein schöner Platz, an dem sich Aphrodite wohlfühlen würde? Oder hat der Neptun "Oberwasser" bekommen, weil andererseits auch dieser vernachlässigt wurde und statt Spiritualität in das Bewusstsein nur Chaos in mein Schlafzimmer gebracht? Kann ich noch die Begeisterung eines Künstlers spüren, der ein Bild malt, ein Lied singt, ein Gedicht vorträgt oder ist mein Leben in letzter Zeit zu technisch und zu trist geworden? Wer hält mich in seinem System gefangen, so dass ich meine Freude nicht mehr wiederfinde? Rotiert noch Liebe zur Sichtbarkeit in meinem Herzchakra oder habe ich Weltfluchttendenzen, die ich mir noch gar nicht leisten kann? Wo sind die seelischen Blumen geblieben, wo die verständnisvollen, verbindlichen Worte, die einem anderen Menschen das geben, was ihn glücklich macht? Gibt es wirklich noch irdische Liebe in meinem Leben oder harre ich in einer Gefühlsmogelei aus, die ihren Zweck längst schon verfehlt? Von welchen überlebten Fixierungen muss ich mich befreien, um neue Bindungen eingehen zu können? Warum sehe ich zwar den natürlichen Kreislauf von Narzissen und Priemeln im Frühling, Rosen und Erdbeeren im Sommer, Astern und Pflaumen im Herbst, das Zurückziehen der Pflanzen in die Wurzeln im Winter, bin aber nicht in der Lage, diesen rhythmischen Prozess seelisch mitzuerleben und in meinem persönlichen Leben auszuhalten?
Aphrodite wird sofort wieder zur Holdlächelnden, wenn ihr Anliegen irgendwie erfüllt wird. Sobald wieder Kunst und Freude da sein dürfen, ist Aphrodite als Urprinzip Venus befriedigt und unterstützt den Menschen in seinem Bedürfnis nach Liebe und Schönheit im Leben – holdlächelnd macht sie das.
Gabriele Quinque