Pietà – der Marienweg als Richtlinie weiblicher Spiritualität
Jungfrau des Heils, Stern der Meere,
die den Sohn der Gerechtigkeit gebar, den Quell des Lichts.
Hort der Keuschheit, höre unseren Lobgesang,
Meeresstern wir grüßen dich!
Bernhard von Clairvaux
Tränenüberströmt in tief dunkler Nacht legt eine Frau ihre Stirn an die Pforte des Pfarrhauses. Von Schmerz über alle Maßen überwältigt, fehlt ihr die Kraft zum anklopfen. Da wird das Tor von innen aufgetan und vor ihr steht der Priester, angetan mit einer braunen Mönchskutte. In der Rechten hält er eine brennende Kerze, die sein gütiges Antlitz beleuchtet. Er schaut die Frau voller Mitgefühl an und spricht: „Eure Wehklage drang in mein Herz, darum bin ich zu Euch gekommen!“ Heftig schluchzt sie auf, öffnet den Mund zum Sprechen, macht einen Schritt nach vorne, als wollte sie sich dem Samariter an die Brust werfen. Er aber gebietet ihr sanft Einhalt, legt den Zeigefinger an seine Lippen und beschwichtigt sie: „Schweigt still, edle Frau, schweigt still und folgt mir in das Gotteshaus!“ Der Priester berührt die Schmerzgebeugte leicht am rechten Arm und geleitet sie zu dem Nebeneingang der Kirche. Vor der uralten Pforte angekommen holt der Priester einen großen Schlüssel aus seinem Gewand und öffnet die Tür. Es ist fast ganz dunkel in dem Gotteshaus. Noch nicht einmal der Mond scheint durch die hohe Bleiverglasung und alle Opferkerzen sind niedergebrannt. Aber weit hinten im Altarraum leuchtet das Ewige Licht vor dem Tabernakel wie ein winziges Versprechen neuer Zuversicht — ein Licht, verborgen in der Finsternis. Der Priester und die Leidende bekreuzigen sich. Als die Frau ihre Fingerspitzen in das Weihwasser taucht, ist es ihr, als seien es die Tränen der Kirche — in einem Becken gesammelt; und so wird ihr die Kirche zu einer Ähnlichleidenden und Vertrauten. Der Priester führt die Frau den Mittelgang entlang, während diese das laute Schluchzen unterdrückt, denn jeder Ton hallt von den hohen Mauern mehrfach zurück. In der Mitte des Weges zum Altarraum geleitet er sie in das nördliche Kirchenschiff vor die Vespermadonna. Wie von einer inneren Hand geleitet nimmt die Frau auf einer Bank davor Platz und richtet ihre Augen auf Maria, die den Leichnam Jesu auf dem Schoß trägt. Der Priester sagt: „Durch Eva ging der Mensch von Gott weg, durch Maria beginnt der Weg zu Gott zurück.“ Tief in ihrem Wesen versteht die Frau diesen Zusammenhang, erfasst die Erhabenheit dieser Stunde, bejaht mit einem sanften Nicken ihres Kopfes und lässt ihren Blick nicht mehr ab von Maria Dolorosa, der Schmerzensreichen. Der Priester fügt hinzu: Eva – Mutter der Sterblichkeit, Maria – Mutter des Ewigen Lebens! Danach entzündet er sieben Kerzen als Symbole für die sieben Schmerzen Mariens, und die Frau legt ihren eigenen Kummer zur Seite und findet Trost in Maria. Sie faltet ihre Hände und betet: Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesu. Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde des Todes. Amen.
Bis zum Morgen hält die Frau Nachtwache vor der Mater Dolorosa und an Stelle ihres menschlichen Schmerzes erfährt sie den Schmerz der Unbefleckten. Und mitten in dem Schmerz erscheint eine neue, vorher nicht gekannte Freude. Die uralte leidbringende EVA wandelte sich zur jungen leidlösenden AVE Maria.
Das Angelus-Läuten
Nach „Ave Maria, gegrüßet seist Du Maria“ wird erinnert an die Botschaft des Erzengels Gabriel. Auf die Weissagung des Engels, sie solle ein Kind durch den Heiligen Geist empfangen, antwortet Maria: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, es sei wie du gesagt hast.“ So, wie Eva unwissentlich zu Gott Nein sagt und Adam auf den Acker des sterblichen Lebens schickt, so öffnet das bewusste Ja Mariens die Pforten zur Erlösung von der Erde.
Weiter heißt es: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.
Vorbeter: Bitte für uns, heilige Gottesmutter. Alle: Dass wir würdig werden der Verheißung Christi. Vorbeter: Lasset uns beten – Allmächtiger Gott, gieße deine Gnade in unsere Herzen ein. Durch die Botschaft des Engels haben wir die Menschwerdung Christi, deines Sohnes erkannt. Lass uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen. Darum bitten wir dich durch Christus, unseren Herrn. Alle: Amen
Dieses 12:00 Uhr-Angelus ist ein Gebet im Wechselgesang (Akklamation). Die Anrufung an den Vatergott erfolgt stets durch den männlichen Priester, damit die Dualität gewährleistet ist, indem die Gemeinde als weibliches Prinzip antwortet.
Es war der heilige Franziskus, der einst anordnete, dass seine Jünger dreimal täglich als Mariengruß die Glocken läuten sollten. Daraus wurde für die gesamte Kirche das „Angelus-Läuten“. Dahinter steht die Idee, auch auf dem spröden Acker der Erdarbeit nicht ohne Maria zu leben. Sie soll von überall hörbar sein. Denn Maria empfängt den heiligen Geist gleichsam in der Tiefenhöhle der Weiblichkeit, deshalb wird sie als Anfang des Heilsweges gesehen. Maria ist dabei ausdrücklich nicht das Heil selbst, sondern die Helferin dorthin, die Wegbereiterin und -begleiterin. Eva gilt als Gehilfin, Gefährtin Adams. Maria als die Alma Socia Christi, die Gefährtin Christi; sie hilft dem Menschen auf dem Weg zu Christus und ist damit Advocata nostra, unsere Fürsprecherin in den Belangen der Erlösung.
Im Alten Bund fand die Verehrung einer entfernten Instanz statt: Gott Vater, thronend in der Höhe! Er konnte herabkommen bis auf den Gipfel des Berges, nicht tiefer. Nur ein Prophet vermochte dort hinauf zu gehen, wie Mose, der sich in eine Wolke einhüllte. Denn ein Prophet kann in dem Geistseelen-Zustand Ruach verweilen. Durch die Fleischwerdung des Wortes jedoch inkarnierte Gott selbst als Christus, das Göttliche bewohnte den Leib Jesu und begründete den Neuen Bund. Verborgen im Inneren des Berges, in der Höhle, brachte Maria den Geist Gottes zur Welt. Diese Höhle oder Grotte wird in dem sakralen Aufbau einer Kirche zu dem Tabernakel, in dem die Hostie als Leib Christi ihre Obhut nimmt. Davor brennt stets das Ewige Licht, das die Gegenwart Gottes anzeigt.
Das Thema der Grotte ist nicht neu. Die ägyptische Isis, die hinduistische Devaki, die buddhistische Maya, um nur einige zu nennen, sind alle auf ihre Weise verbunden mit der Symbolik von Grotte, Höhle oder Kasten. Alle Mütter der Erlöser, die in die Welt entsandt werden, tragen den Namen der Materie und liefern den Uterus für die Gottfindung, was die Grotte als Symbol auf den Plan holt. Die Abbilder der Gottesmütter sind überall die Tempel, in denen der Mensch mit Gott kommuniziert. Jede Moschee, Basilika, Kirche, Kathedrale, jedes Münster (Klosterkirche), jede Kapelle (kleiner Mantel) und natürlich jeder Dom (Herr), gleichsam die Dame für die Herrschaft Gottes, verkörpert den Leib der Erlöser-Mutter.
Maria es typus ecclesia – Maria ist das Urbild der Kirche
Kirche ist auch Leib Christi; in diesem Sinne besiegelt sich die Verwandtschaft von Mutter und Sohn. Der Begriff „Mutter Kirche“ ist nicht nur im Christentum gebräuchlich, denken wir an „Mütterchen Kabbala“. Die Kirche und Maria sind beide auf ihre Art die tragende Mondsichel, die das Licht des Christus trägt. Der Mond wird in Maria zur Geburts- und Weihestätte der Sonne. Jede Kirche ist darum ein Abbild des Marienschoßes.
Papst Pius XII und Augustinus sagten:
Maria, die schon dem Leibe nach Mutter unseres Hauptes ist, wurde nun auch im Geiste Mutter aller seiner Glieder.
Die heilige Baukunst des Mittelalters hat Adam und Eva draußen an die Tore gestellt. Sie glichen zwar vollkommenen Menschen, waren Meisterwerke des Schöpfers, gelangten jedoch nicht in das Innere der Heiligkeit. Maria hingegen fand und findet auch heute immer Einlass in ein Heiligtum. Wohlgemerkt, Maria wird Christus beigestellt, sie ist nicht amtierend, sondern mitwirkend, helfend. Wie die Frau in echten Mysterienschulen, auch dort hilft sie dem Solaren mit der Hingabe des erlösten Mondes.
Innerhalb der Petruskirche musste das Marienbild etliche Transformationen durchmachen. Maria wandelte sich so häufig wie der Mond selber. Im Laufe der Zeit avancierte sie von der gehorsamen Theotokos, der Gottesgebärerin, zur rechtmäßigen Himmelskönigin und Muttergottheit.
Der Klerus wusste und weiß noch heute, man schadet der christlichen Marienverehrung, wenn man ihre Mythologeme auf zwischenmenschliche Probleme reduziert und ihr das tiefgreifende religiöse Ansinnen raubt. In dieser Überzeugung lag stets der Grund, weshalb die verschiedenen Konzile während der Jahrhunderte mit dem Thema „Maria“ in Klausur gingen, um erweiterte Erlasse über ihren Status herauszufiltern. Hätte man seitens der Kirche alles, was Maria betrifft, dem Volk überlassen, wäre man sehr schnell in das Fahrwasser der alten Fruchtbarkeitsgöttinnen gelangt. Die Neuerung des Christentums jedoch wollte aus vergangenen Kulten nur das Beste erhalten und eklektisch in der heiligenden Wirksamkeit hochpotenzieren. Antiker Aberglaube, Dekadenz und Perversion sollten von vornherein und dauerhaft ausgeschlossen werden. Um dies zu gewährleisten, durfte die heilige Arbeit nur noch in geweihter Priesterhand liegen.
Weisen Frauen, autodidaktischen Gesundbetern, Handauflegern, Sternendeutern und wilden Orgien in heiligen Hainen sollte der fruchtbare Boden entzogen werden. Man wollte gleichsam die feuchten Brutstätten magischer Missverständnisse austrocknen. In diesem Ansinnen lag einer der Gründe, warum die Römer nach anfänglichem Argwohn und Feindschaft schließlich zu Christen wurden; hatten sie doch vergeblich versucht, dem ungesunden Wildwuchs der Bacchanalen ein Ende zu setzen. Denn was das römische Volk dort zu urchristlicher Zeit mit Begeisterung praktizierte, war zu fraglichen Vergnügungen verkommen und bildete nur noch den Abschaum einstmals heiliger orphischer Kultpraktiken. Bacchantisch tanzende Frauen und Fruchtbarkeitsorgien sollten in die Kirche nicht einziehen. Darum hielt man im römisch-katholischen Dekret das weibliche Prinzip zunächst bewusst klein und beließ es bei der unbefleckten Mutterschaft Mariens, um ihr nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Da jedoch das Volk im kultischen Leben ohne Frau als Abbild des eigenen Gemüts nicht auskam, fing es an heimlich in den Grotten und Höhlen zu Maria zu beten. Da dies keine wilden Blüten treiben sollte, richtete man eines Tages die Inquisition ein und verfolgte jede Form weiblicher Spiritualität in den Dörfern. Tiefer im klerikalen Herzen erkannte man jedoch: das ist ein verkehrter Weg! Und das Volk braucht eine Göttin. Man schuf die ungute Inquisition wieder ab und arbeitete an der Kult-Statue der Madonna weiter. Eines war inzwischen klar geworden: Der Mensch in seinem harten Leben bedarf der „Weisen Frau“, die mitleiden und mitfühlen kann, weil sie schicksalsbedingt eine Ähnlichleidende ist. Wegen dieser Sehnsucht weinten einige von dem Schmerz der Menschen aufgeladenen Marienfiguren blutige Tränen, und es mehrten sich volkstümliche Wallfahrtsorte, wo die innigste Begegnung mit Maria möglich wurde. Also musste der Marienkult innerhalb des Kirchenlebens legitimiert werden.
Die Vergottung Mariens
Was wie eine Göttin angebetet, sozusagen vergöttert wird, muss auch wahrhaft „göttlich“ sein und nicht menschlich, in diesem Punkt unterscheiden sich die Richtlinien der Christen nicht von jenen antiker Religionen. Maria bedurfte aber ebenso dringend ihrer Menschlichkeit, um Jesus als Fleisch gewordenes Wort zu empfangen. Das nennt man ein Dilemma! Aber folgende Lösung bot sich an: Maria Immaculata, Maria die Unbefleckte! Maria sollte wie Jesus in dieser Welt leben, aber nicht von dieser Welt sein. „Maria sine labe originali concepta“ Maria, ohne Makel der Erbsünde empfangen, so sollte sie gesehen werden, beschloss man in den Konzilen. Dies besagt: Wenn sie wieder im „Großen Oben“ aufgenommen werden soll, so musste sie wie Inanna auch von dort gekommen sein. Anders ist eine Apotheose, eine Gottwerdung, kultisch nicht einzurichten. Dazu gehört entweder ein männlicher Heldenweg oder eine himmlische Fügung. Letzteren Heilswein schenkte man Maria in ihren Lebenskelch ein.
Am 8. Dezember gab es bereits in der Orthodoxen Kirche, die sich ca. 1000 nach Chr. von Rom ablöste, ein Hochfest; darum traf es sich gut, das Fest der Unbefleckten ebenfalls dorthin zu legen. Am 8. Dezember feiert man nun Mariä Empfängnis – genau neun Monate früher als Mariä Geburt am 8. September. Im Jahre 1263 wurde das Fest im Franziskanerorden eingeführt, aber erst 1708 durch Papst Clemens XI. weltweit praktiziert. 1854 folgte das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens, welches besagt, sie sei bereits im Voraus erlöst gewesen, von Anbeginn ihres Lebens ohne jeden Makel. Außer Maria und Jesus verfügt aus katholischer Sicht die Menschheit als Ganzes über die Erbsünde, wie man die adamitsche Schuld der Absonderung von der Einheit bezeichnet. Dass die Dogmatisierung fünfhundert Jahre gedauert hat, lag an den heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche. Die einen wollten die Mutter Jesu rein menschlich, mit kleinen eigensüchtigen Fehlern haben und zogen ihre Ermunterung zu magischem Handeln ihres Sohnes anlässlich der Hochzeit zu Kana als Beweis heran.
Für die anderen sollte Maria ganz und gar himmlisch und übergeordnet gehandelt haben. Letztere werteten den Wunsch „Wasser in Wein zu wandeln“ als Antrieb, Jesus möge endlich mit seinem Priesterwerk beginnen; sie festigten ihre Überzeugung mit den Worten, die von Maria anlässlich dieser Wandlung gesprochen wurden. Maria forderte die Hochzeitgäste zu Kana auf: „Was er euch sagt, das tut“. Und man wollte darin den guten Rat ableiten, für immer alles gelten zu lassen, was Jesus jemals anordnete, zumal es die letzten Worte sind, die Maria in den kanonischen Evangelien spricht. Das Priestertum Jesu nimmt hier seinen Anfang, denn die Verwandlung von Wasser in Wein geht der magischen Wandlung von Wein in Blut wie selbstverständlich voraus.
Diese komplexen und weitgreifenden Betrachtungen sind zwar der menschlichen Vernunft weniger zugänglich, gestalten sich aber in sakraler Hinsicht sinnvoller: Im Verlauf eines religiösen Weges lässt sich die Seele mehr und mehr von Geist durchdringen, bis sie schließlich eins damit werden kann: „Ich und der Vater sind eins!“
Wäre Maria nur ein normaler Mensch mit einigen ungewöhnlichen Tugenden, verkäme die Kirche ungewollt zu einem frommen Verein, der lediglich die Erhebung von Ethik und Weltanschauung zum Ziel hätte. Und Kirche wäre bald nicht viel mehr als ein Zweckverbund diesseitiger Interessen. So etwas gibt es aber auch ohne Religion bereits überall, darin liegt nicht der Auftrag einer Religion, weswegen man händeringend derartige lunare Einbrüche wieder und wieder versucht zu verhindern. Vater, Sohn, Heiliger Geist sind es wert Anbetung zu erfahren, denn sie gehören in den Himmel. Darum muss auch Maria, die heilige Vierte im Bund, dort ansässig sein, gewissermaßen von den höchsten Sphären gekommen und ganz Mensch geworden sein. Also wird sie zur Himmelskönigin gekrönt und erhoben.
Analog zur Achamoth (geflügelte Sophia), Isis-Urania oder der dritten Tarotsäule (geflügelte Urmutter) fügt sich dann auch Maria lückenlos als „Himmelskönigin mit Sternenkranz“ in die tradierten Volksbilder göttlicher Weiblichkeit ein.
Luther selbst hat zu seinen Lebzeiten die Gottesmutter noch sehr verehrt, erst später verlosch neben dem Ewigen Licht und den Opferbränden auch noch die Göttlichkeit Mariens im Protestantismus. Maria wird dort als Ersatzgestalt der gnostischen Sophia Achamoth nicht mehr begriffen. Da Maria von den dunklen Anteilen der unteren Sophia vollständig abgelöst wurde, erscheint die katholische Maria den Protestanten als irdische Mutter nicht mehr stimmig; man will kein Ave Maria singen und die Mutter Jesu lieber im Staube belassen. Vielleicht geschieht dies, damit Herr Jesus seine Marienbleibe überall auf dem Globus behält. Denn für die Protestanten sind nicht die Kirchen geweiht, sondern die ganze Erde. Der Katholizismus sieht dies genau umgekehrt, dort liegt die Weihe in den Händen wandelnd arbeitender Priester und im Schoße von Mütterchen Kirche. Die katholische Maria bekommt bewusst Maria Magdalena an ihre Seite gestellt, damit sie als göttliche Mutter eben gerade nicht alle antiken Göttinnen in ein und derselben Gestalt verkörpert. Was bei Sophia noch möglich war, nämlich Hure und Heilige in einer Person zu sein, lässt sich bei Maria nicht mehr aufrecht erhalten. Dahinter steht eine gute Begründung: Sophia bringt legendär als „Moth“ aus Ungehorsam die Kreatur des falschen Demiurgen Jaldabaoth hervor. Dessen Körperlichkeit weist eine Schlange mit Löwenkopf auf und stellt nicht die selige Weisheit dar, sondern das Gefährlichste und Verabscheuungswürdigste, das es im Schöpfungsplan gibt: Wissen ohne Seele. Ohne Weisheit (Sophia) darf es Wissen nicht geben, darum muss Sophia den Weg der Reue zu ihrer Katharsis einschlagen.
Maria hingegen soll von Anbeginn allezeit die Gehorsame bleiben, die den wahren Gott nicht wie Sophia aus sich selbst heraus, sondern durch den Heiligen Geist gebiert — und darüber hinaus seinen Tod behütet und seine Auferstehung begleitet. Den anderen beiden Marien der synoptischen Evangelien stülpt man das menschliche Verhalten des irdischen Weibes über. An diesem Kunstgriff der Dogmatik erkennen wir deutlich, dass es einer Kirchenlehre nicht um historische, vernunftsabhängige oder gar alltägliche Einsortierbarkeit geht. Wichtig bleibt vor allem die sakrale Stimmigkeit als Voraussetzung für eine wirksame Liturgie. Nur wenige außerhalb (und beileibe auch nicht alle innerhalb) des Klerus begreifen, wie sehr das Sakrale konstruiert werden muss, damit es vollkommene Abstimmung mit der unsichtbaren Welt sein eigen nennen darf.
Der Dom des Glaubens wird gemäß einer geistigen Statik errichtet, damit er die Symbolik kosmischer Wirklichkeit und initiatischer Wirksamkeit in sich aufnehmen kann. Anders gesagt: was im Christentum angebetet wird, darf weder goldenes Kalb sein noch sonst irgendwie dem Irdischen anhaften! Damit jedoch der antike Reigen der Göttinnen auch im Christentum nicht ganz untergeht, wird Maria, wie schon gesagt, durch die anderen Marien ergänzt, die nicht in den Himmel auffahren, auf Erden verweilen und Spiegel bleiben für persönliche Wünsche. Terra terram accusat – Erde, die Erde klagt dich an, darf für Maria Magdalena formuliert, aber nicht über die Gottesmutter verhängt werden. Maria als Gottesmutter tritt auf die Schlange der Welt und erhebt sich von dem Boden. Maria Magdalena wirft sich schmerzgebeugt, leidenschaftlich wie eine normale Frau, vor das Kreuz, denn sie darf den Logos als Menschen lieben, wie die Gemeinde als Ganzes durchaus ihren amtierenden Priester lieben darf.
Maria, die Unbefleckte, hingegen soll den Logos als übergeordnetes Opfer- und Auferstehungswerk lieben und stets aufrecht stehend abgebildet werden — weil sie um das Mysterium wisse, so sagt man auf der klugen Seite der Kirche!
Das Protevangelium des Jakobus
Da man in der kanonisierten Schrift keine Aussagen über Marias Empfängnis und Geburt fand, wich man ideell ausnahmsweise auf das apokryphe Protevangelium des Jakobus aus, ohne diese direkt im Dogma der unbefleckten Empfängnis zu benennen. Dort wird geschildert, wie Joachim und Anna hochbetagt noch keine Nachkommenschaft haben und schließlich ohne körperliches Zutun Joachims die Tochter Maria als Geschenk Gottes erhalten.
Dies geschah so: Joachim war schon recht betagt, forschte nach und fand heraus, er sei der einzige in allen zwölf Stämmen Israel der keine Kinder bekommen hatte. Da dachte er an Abraham und Sahrah, die sehr spät erst Isaak erhielten. Und Joachim ging in die Wüste und fastete dort vierzig Tage und Nächte. Anna trauerte unterdessen zweifach: Joachim hatte sie verlassen, und sie war kinderlos. Da setzte sie sich unter einen Lorbeerbaum und erblickte ein Sperlingsnest mit Jungen darin. Sogar die Vögel und alles andere Getier haben Kinder, so klagte sie, nur sie sei ohne Frucht geblieben. Da kam der Engel des Herrn zu ihr und verhieß ihr, sie werde empfangen. Anna leistete beglückt das Gelöbnis, sie wollte dieses Kind in den Dienst des Herrn geben. Ebenso wurde Joachim von dem Engel prophezeit, er sei erhört worden und Anna würde empfangen. Da opferte Joachim dem Herrn vor Dankbarkeit seine besten zwölf Lämmer. Als das Mädchen Maria sechs Monat alt war, machte es sieben Schritte auf dem Boden, aber Anna hielt es auf und gelobte, dass Maria diesen groben Boden nicht mehr berühren solle, bis sie in dem Dienst des Herrn stünde. Also errichtete sie ein kleines Heiligtum um das Bett herum und ließ kein gemeines Ansinnen dorthin gelangen. Im Alter von drei Jahren gaben die Eltern das Kind in den Tempel, damit es auf heiligem Boden aufwachse.
Der Hohepriester empfing Maria und stellte sie auf die dritte Stufe vor dem Altar, da ergoss sich die Gnade Gottes über das Kind. Mit zwölf Jahren sollte sie sich mit einem würdigen Manne verloben. Alle Witwer des Volkes durften ihren Stab bringen, und man wartete auf ein Zeichen Gottes, doch es zeigte sich an keinem der Stäbe eine himmlische Botschaft. Als jedoch Josef der Zimmermann als letzter den freienden Stab herbei brachte, flatterte sogleich eine weiße Taube heraus und schwang sich auf Josefs Haupt. Da wurde Maria mit Josef verlobt, obwohl er schon ein Greis war. Bald wurde im Tempel ein Vorhang gebraucht, und man fand nur sechs Jungfrauen, die noch unbefleckt waren. Deshalb eilte man zu Maria im Haus Josefs und erteilte auch ihr diese Arbeit. Als die Fäden verlost wurden, fiel der echte Purpurfaden und der Scharlach auf Maria und sie begann das Werk des Webens.
Mit der Farbe Purpur kündigt sich das Werk der Vergeistigung an; in das blaue Wasser der Seele dringt der rote feurige Geist und bringt die Farbe Purpur hervor.
Purpurvorhänge schützen seit jeher das Allerheiligste. Maria webt in diesem Gleichnis nicht an dem Teppich eines bürgerlichen Familienlebens, der waagerecht liegt, den man mit alltäglichen Schritten belastet und unter den man bekanntlich kehrt, was den häuslichen Frieden stört. Maria arbeitet an einem senkrecht hängenden Vorhang zum Allerheiligsten, der ehrfürchtige Blicke auf sich zieht.
Ein schönes Symbol für einen solchen Purpurvorhang trägt jeder Mensch täglich bei sich: Man ahnt ihn, wenn man bei starker Sonneneinstrahlung die Augenlider schließen muss. Ähnlich wie die Lider das Auge vor dem zu hellen Licht schützen, verbirgt auch der Purpurvorhang das Gewaltige vor den Blicken Unberufener.
Diese apokryphe Legende Mariens untermalt die Unbeflecktheit des Mutterschoßes Mariens im Voraus. Denn sie selbst ist hier schon Teil des Himmels, da sie bereits unbefleckt empfangen wurde und folgerichtig ihrerseits von dem Heiligen Geist empfangen wird. Das Marienleben vollzieht sich alsbald in den zwölf Lämmern des Joachim und ihren ersten sieben Schritten, die sie mit sechs Monaten macht. Nach den ersten sechs Tierkreiszeichen wird sie „als Jungfrau“ in ein heiliges Leben emporgehoben. Die sieben Schritte verwandeln sich später in ihre sieben Schmerzen. Der Weg durch den Tierkreis gestaltet sich für Maria wie der Opferweg der zwölf Lämmer Joachims: unschuldig und lammfomm!
Die Tetraktys der wesentlichen Marienlehre fügt sich wie selbstverständlich in die vier Quadranten des Tierkreises ein.
1. Quadrant:
Immaculata Conceptio, immerwährende Jungfräulichkeit
Auf ihrem Weg durch die Erdschlucht behält Maria die unbefleckte Empfängnis und immerwährende Jungfräulichkeit, obwohl sie das Leben auf ihren beiden Füßen durchwandert wie jeder Mensch und sogar außer Jesus noch andere Söhne hatte. Obschon jeder Inkarnierte die Schuld der Erbsünde bei seiner Empfängnis und seiner Geburt in den Stoff erhält, bleibt Maria davon verschont. Sie verliert dadurch aber auch das Recht auf subjektive Beweggründe. Als Jesus in einem Haus vor seinen Jüngern predigte, standen seine Mutter und seine Brüder vor der Tür und wollten ihn sprechen. Jesus wies sie ab mit den Worten:
Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
(Mt 12, 48-50)
In diesem Gleichnis löst Jesus seine Mutter aus den Banden des dritten Zeichens, der diesseitigen Zwillinge, und macht seine Verwandtschaft an dem geistigen Band des Schütze-Zeichens fest, als wollte er bestätigen, dass Maria keinen Erdaspekt besitzt und wie er selbst „nicht von dieser Welt ist“.
2. Quadrant:
Theotokos, Gottesgebärerin, Deipara, Mater Dei, Gottesmutter
In den seelischen zweiten Quadranten gehört die übernatürliche Empfängnis und die Geburt Jesu. Hier begründet Maria die Trinität von Hoffnung (Krebs), Liebe (Löwe) und Glauben (=Wissen, Jungfrau). „Jungfrau“ ist Maria in mehrerer Hinsicht: Als wissende und keusche Mutter im Zeichen der Jungfrau, das als Siegel Mariens gilt, sowie in ihrem hebräischen Namen „Miriam“, der „Meerjungfrau“ bedeutet und in das Urprinzip Jungfrau die Mystik der gegenüberliegenden Fischesignatur mit einbezieht.
3. Quadrant:
Mater Dolorosa, schmerzensreiche Mutter
In dem Geist-Quadranten geht auch Maria bewusst durch die Waage, wo die Umgestaltung der Liebe vollzogen werden muss. Denn die Liebe soll eines Tages reine Agape werden, um dereinst im Himmel Einlass zu finden. Es ist jene jenseitige Liebe, in der aller äußerer Gewinn dahingestorben sein soll wie bei Isis mit dem Leichnam des Osiris auf dem Schoß oder wie bei Sigune mit dem toten Ritter in Eschenbachs Parzival. Darin liegt der Weg durch die Transformation, die gekennzeichnet ist durch das skorpionische Opfer und in der geistigen Wiedergeburt des neunten Zeichens gipfelt.
4. Quadrant:
Assumptio, Aufnahme im Himmel
Assumptio heißt das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Ihr Todesweg führt nicht mehr durch die Unterwelt, denn diese hat sie bereits zu Lebzeiten durchwandert, wie der Eingeweihte der Johanneischen Mysterienschulen es ebenso durchmacht. Also haben Seinsformen wie das „Astralreich“ (Leibseele, Nephesch) und die sogenannte „Mentalebene“ (Geistseele, Ruach) keinen Zugriff auf die Seele Mariens. Da sie vollständig die obere Seele (Gottseele, Neshamah) verkörpert, wird sie unmittelbar neben den Thronsitz Gottes erhoben — wie vor ihr Christus und davor Henoch.
Verinnerlichen wir uns ergänzend zu dem Tierkreis noch die sieben Schmerzen gemäß der sieben klassischen Planeten, dann nehmen wir die Beschneidung Jesu unter dem Signum des Mars wahr und fühlen den Schmerz der Mutter. Die Flucht nach Ägypten zeigt die Entwurzelung Mariens und steht somit für den Schmerz von Venus. Das Auffinden des zwölfjährigen Jesus im Tempel, nachdem Maria und Josef ihn drei Tag lang gesucht haben, steht für den Merkur-Schmerz, wo das Alltägliche, d.h. die normale Funktion, Verletzung erfährt. Die Begegnung von Jesus und Maria auf dem Kreuzweg symbolisiert den Schmerz des Mondes, dem das konfliktfreie Leben entzogen ist. In der Kreuzigung erkennen wir Saturn als Todessignatur durch die Materie. Die Kreuzabnahme beginnt unter Jupiter das Werk der Auferstehung, und der Schmerz Mariens wird zur Pietà. Die Grablegung führt die Verdunkelung der Sonne vor Augen, die drei Tage und vier Nächte in dem Grabgewölbe ruht.
Das Kunstwerk Pietà
Wir haben erkannt, die Kirche ist wie die Orgel unverrückbar „Maria“. Als Orgel heißt sie „Göttliche Magd“ und erklingt im Westen. Dort nimmt sie die Göttlichkeit in sich auf, die den Priester aus dem numinosen Licht des Ostens heraus durchströmt und sich von seinem Wesen aus wie ein Mantel über das Kirchenschiff ausbreitet. Maria verwandelt dieses Werk in die Wucht der Orgelmusik und macht dem Werk weiblicher Spiritualität alle Ehre.
Im dunklen Norden findet man meistens jene wunderbare Figur namens Pietà, was die Abkürzung von „Maria Sanctissima Bella Pietà“ darstellt. Ganz wörtlich heißt dies: Die heiligste Maria von der schönen Frömmigkeit, aber für gewöhnlich übersetzt man „Die heiligste Maria vom Mitleiden“.
Die bekannteste Pietà ist die wunderbare Marmorskulptur von Michelangelo Buonarotti. Der Künstler vollendete diese Herrlichkeit 1501 für die St. Peterskirche in Rom, wo sie noch heute ehrfürchtige Bewunderung findet.
Zwischen Kreuzabnahme und Grablegung siedeln wir Pietà an. Diese Figur ist biblisch in keiner Form haltbar, nirgends wird sie beschrieben, aber sie entstammt dem menschlichen Bewusstsein, das stets Sehnsucht empfindet, das Großartigste seiner Empirik wieder aufleben zu lassen. Und so erscheint Isis mit dem toten Osiris wieder in Maria, genauso wie Isis mit dem Horusknaben in Maria mit dem Kind erscheint. Der zu Pietà gehörige Tag ist der 15. September: Maria Mater Dolorosa, Maria die schmerzensreiche Mutter.
Pietà entspricht nicht einer der sieben Schmerzen, Pietà symbolisiert alle sieben Schmerzen Mariens in einer Gestalt, verleiht ihnen einen sichtbaren Höhepunkt, liefert aber gleich noch den beseligenden Grund für das Leid mit: nämlich dass die Voraussetzung der Wiedergeburt in dem Sterben der Ichkräfte liegt.
Jesus, der Erdenmensch,
ist in Pietà gestorben,
damit der Gottmensch
als Christus auferstehen kann.
Indem Maria den toten Sohn
ein zweites Mal in ihren Schoß nimmt,
wird sie selbst zu dem Gral seiner Auferstehung.
Pietà stellt somit einen großartigen Beweis für das verborgene Wissen der menschlichen Seele dar, und es wundert wenig, dass es unzählige solcher Vesperbilder in den Kirchengemeinden gibt. Eine besonders schöne Pietà befindet sich auch in St. Matthias im hessischen Niederroden.
Fünf Merkmale der Pietà:
1. Die breite Beinstellung ist weiblich, urmütterlich, aufnehmend und gebärend zugleich, sinnbildlich erinnernd an die Göttinnen der zweiten Geburt.
2. Die Windel der Geburt wird hier zum Leichentuch und, indem es sich um eine Schulter Mariens legt, zu einem Priesterlichen Mantel. Jede Pietà zeigt Maria gleichsam als Hohepriesterin, als begleitende Mystagogin auf dem Weg durch die Unterwelt, durch die dunkle Nacht der Seele.
3. Maria muss in der Pietà voller Jugend und Schönheit sein, als Ausdruck ihrer Unbeflecktheit und ihrer Zeitlosigkeit. Die „Madonnenstufe“ der Frau ist stets schön, und Maria schreitet als erhabenes Beispiel voran.
4. Der Gesichtsausdruck sollte der Maria Dolorosa gemäß zwar schmerzvoll, wehklagend sein, aber keineswegs verzweifelt, denn Maria muss um die Auferstehung wissen. Also trägt sie zwar im Augenblick das Leiden in ihrem Schoß aus, ist sich aber ihrer Funktion als „Kessel der Wiedergeburt“ gewiss, wie dies in archaischen Stämmen genannt worden wäre.
Wenn Jesus danach in die Höhle gelegt wird, spiegelt dies ebenfalls seine Geburt in der Tiefenhöhle der Welt wider (der Stall mit der Krippe war eigentlich eine Höhle). Marias Wesen gleicht in der Pietà dem Messkelch. Pietà ist demnach eine Vorwegnahme des Heilsgeschehens durch die Eucharistie: Der konkrete Leib Christi senkt sich in den Kelch Mariens.
Dies bedeutet exoterisch: Der Messkelch mit der Hostie ist Blut und Leib Christi. Den Kelch hält nur der geweihte Priester, weil dieser als einziger weiß, welches Mysterium sich darin birgt, und es geschieht Erlösung der Gemeinde als Ganzes durch Petrus mit dem Schlüssel. Im Esoterischen wird der Marienkelch zum Heiligen Gral, der jeden in seiner Nähe zu einem Priester weiht, und es erfolgt die Erlösung des Einzelnen durch Johannes mit dem Buch. In der Apokalypse, der Enthüllung des Heiligen Geistes durch Johannes, werden alle zu Priestern geweiht, sobald sie bereit sind, von ihrem Begehren das Physische abzustreifen.
5. Alle fünf Wunden müssen sichtbar sein, daraus ergibt sich meistens eine leichte Schräglage des Leibes. Jene fünf Wunden mit den fünf Sinnen gleichzusetzen liegt nahe. Und wir finden eine typische Signatur für das initiatische Wiedergeburtserlebnis, wie es in antiken Weihekulten praktiziert wurde und auch heute noch in den Logen und Orden der Einweihungsströmungen lebendig erhalten wird: Die fünf Sinne sterben in den fünf Wunden ab.
Das profane Hören wird zu feinsinniger Intuition und nimmt die innere Stimme wahr. Der Mensch hört die Heilige Lehre in sich selbst, richtet seinen Gehorsam darauf aus und widmet dem Geistigen zu bestimmten Zeiten seine Aufmerksamkeit.
Das Sehen wandelt sich zu einem vorbehaltlosen Hinschauenkönnen innen und außen, in die Schatten ebenso wie in das Licht. Der Mensch wird buchstäblich ein Seher, ein Hell- und Einsichtiger. Durch die Praktik der Visualisation verleiht er seiner inneren Stimme eine subtile Gestalt und führt damit ein zusätzliches und verborgenes Leben.
Das Riechen wandelt sich in das subtile Wittern des göttlichen Hauches und führt zu dem Einatmen des Pneumas, des Heiligen Geistes. Der Mensch wird mit einem solchen Geruchssinn zu einer geisterfüllten Seele.
Das geläuterte Schmecken führt zu einem Einverleiben des göttlichen Willens und schenkt dem Geweihten einen „neuen Geschmack“, das Buch der Welt (Liber Mundi) schmeckt süß auf seiner Zunge, und der Eingeweihte muss lernen dies zu „verdauen“, d.h. seine Geheimnisse zu verkraften.
Im erneuerten Fühlen zeigt sich das Bedürfnis von Gottnähe. Der Mensch fühlt sich hingezogen zu den Glaubensbekenntnissen aller Religionen und spürt darin die Echtheit und den Segen für seinen Seelenweg.
Indem die fünf Wunden Christi am Kreuz bluten, sollen sich die fünf Sinne der ganzen Menschheit verwandeln; analog zu den stammesüblichen Initiationsverletzungen des Einzelnen sollen sie eine kollektive Erhebung der fünf Sinne, sprich: der Lebensabsichten, erwirken.
Manche Pietà-Figuren oder -Gemälde zeigen, dass die Wiedergeburtsmysterien darin nicht mehr verinnerlicht werden, denn sie verlieren ihre Herrlichkeit und lassen den Schmerz dominieren. Ähnliches gilt leider auch für eine allzu menschliche oder intellektuelle Hinwendung an die Pietà und die daraus folgende Deutung.
In diesem Zusammenhang sei ein Zitat über die Pietà aus einem Marienbuch der sogenannten „Feministischen Theologie“ angeführt:
Wir gedenken der vielen Frauen, die als Hexen und Ketzerinnen von den Männern verbrannt wurden, deren Kinder von Kriegern getötet wurden. Wir denken an alle Frauen, die von ihren Männern bedroht und geschlagen werden, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt und abgewertet werden, an die vergewaltigten Frauen unserer Zeit. Maria ist das Vorbild aller leidenden Frauen, auch der leidenden Männer; sie ermutigt uns, den Gewalttätern offenen Widerstand zu leisten. Sie hilft allen Frauen, aufrecht ihr Leben zu gestalten. Vor allem hilft sie den Schmerz zu lindern und die Verletzungen zu heilen.
Kersti Geiseler, Maria – die irdische Frau, Verlag Styria, Graz, 2000
In diesen Zeilen ist es kühl geworden im religiösen Leben, denn eine Reduktion auf die leidende Frau im Frauenhaus, auf die Geprügelte und Vergewaltigte, trifft vielleicht gerade noch den auf dem Boden schleifenden Rocksaum der Pietà, jedoch bei weitem nicht mehr das erhabene Herz einer in Gehorsam und Erbarmen ausgereiften Kultstifterin. Die Marientugenden auch noch als Aufforderung zum offenen Widerstand umzudeuten, verrät das Unvermögen mystische Hintergründe zu erkennen. Maria – und das ist das Besondere an ihrer Aufgabe – fordert keineswegs „zum Widerstand gegen Gewalt“ auf. Ihr gesamter Blickwinkel und Ansatz ist ein vollständig anderer: Maria öffnet sinnbildlich ihren göttlichen Schoß für die zweite Geburt und würde diese Arbeit ohne Vorbehalt auch für den Gewalttäter vollbringen, sofern dieser sie aufrichtig darum bittet.
Die oben formulierten Worte mögen für den Alltagsgebrauch recht ergreifend sein, aber die Seele mit ihrem himmlischen Heimweh verhungert dabei trotzdem am ausgestreckten Arm. Michelangelo hätte im Anflug solcher Gedanken brüderlich unsere Hand ergriffen, uns vor seine jugendfrische Pietà geführt und seine liebevoll in den Marmor geschmiegten Wallungen des Gewandes als Signatur übermenschlicher Hingabe gedeutet. Er hätte uns die Eleganz der Hände und das von ewiger Weisheit und Lieblichkeit erfüllte Lächeln in den Zügen der Schmerzensreichen als Verheißung auf das wahre Leben jenseits der Form gezeigt. Und der Künstler hätte uns versichert, Maria sei die Pforte zum Himmel selbst und so gut wie gar nicht blicke sie auf das irdische Leben zurück, aber sie geleite jeden voller Freude an ihre Pforte.
Denn in den genannten rein diesseitigen Aspekten fehlt absolut das Wichtigste auf dem Marienweg: Das Mysterium der Wiedergeburt aus Wasser (Maria) und Geist (Christus), das verbindliche Gelöbnis, das unerlässlich ist, um die Erhebung der Seele erfahren zu dürfen. Hierin finden wir einen weiteren Beweis für die unerlässliche These:
Religion sollte niemals natürlich sein,
sie gehört allein dem Übernatürlichen an.
Allein schon in der Sprache weht in der Predigt eines zeitgenössischen Kardinals ein anderer Wind als in den obigen Verweltlichungen, von den antagonistischen Grundgedanken ganz zu schweigen. Genießen wir im Anhang zu diesem Artikel auszugsweise einige Kostbarkeiten daraus und beachten wir, wie subtil Maria hier zu einer Hohenpriesterin erklärt wird. Denn in den Händen heiliger Frauen lag bereits im Altertum das Therapeutenrecht für den Abstieg im Ablauf der Wiedergeburtsriten und liegt es auch noch heute. Die eingeweihte Frau führt seit alters her die Mysterienkandidaten auf dem Wasserweg der westlichen Tempelstation in den Hades und durch ihn hindurch wieder hin zu dem glorreichen Licht des Sonnenaufgangs im Osten. In einer unsagbaren Durchlässigkeit und einer hinnehmenden Wertfreiheit liegt das therapeutische Signum der amtierenden Ordensfrau Maria, die nicht unberechtigt von vielen als Mitglied der Essener gesehen wird.
Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.
(Lk 2,51)
Maria reicht uns die Hand zur Transformation von dem Erdenwurm in den wahren Menschen; sie führt uns von Merkur zu Jupiter und als Mondenkraft erweckt sie in der Menschheit den Sonnenlogos. Als neue Eva oder christliche Isis-Priesterin entfacht sie das Himmelslicht im Menschen und hilft dem Heiligen Geist, die sterbliche Seele in das Gefäß der Ewigkeit umzugießen. Jene Weihe der Wiedergeburt durch Maria, die in der Petruskirche den Priestern in der Nachfolge Christi vorbehalten ist, erlebt ein jeder Myste in den Tempeln des Johannes am eigenen Leibe, denn wunderbare Wiedergeburtsweihen stehen dort jedem Glied der Bruderkette zur Verfügung.
Gabriele Quinque
Willkommensrede an die Priester, 14. Mai 2002, Vatikan:
Im Haus der Mutter werden stets sämtliche Werke wiedergefunden, vor allem Brüderlichkeit, Einheit der Herzen, der heiligen Interessen und Absichten sowie Einheit der Mission. (…) In der Passion lehrt uns Maria die „compassione“, das Mitleid. Die Heiligen, die die geringste Nachsicht mit sich selbst üben, sind am nachsichtigsten mit anderen. Führten wir ein säkularisiertes oder auch nur verwässertes Leben, könnten wir keine wirklichen Hirten sein und wären nicht mehr fähig zu erleuchten und zu trösten. Der Priester, der dem Vorbild des Herzens des guten Hirten nachfolgt, sieht Maria in der Asche des menschlichen Lebens. (…) Die Unbefleckte ist unter den Befleckten, die Unschuldige unter den Sündern. Sie kennt jedoch weder Groll noch Bitterkeit, sondern nur Erbarmen, Erbarmen, Erbarmen, weil diese nicht verstehen oder nicht wissen, dass Lieben heißt, jener Liebe, die sie in den Tod schicken, Gehör zu schenken. In der Reinheit steht Maria auf dem Gipfel des Berges; im Erbarmen ist sie unter den Verdammten … in jedem Elend! Ein menschliches Wesen kann eine solche Besessenheit erreichen, dass es sich weigert, Gott um Vergebung zu bitten, aber es kann nicht umhin, die Fürsprache der Mutter Gottes zu erflehen. (…) Zwei Worte sind es, die dem Priester wieder und wieder von den Lippen kommen: „Jesus und Maria“. Jesus ist stets Priester gewesen. Nun, in der Stunde des Todes ist er auch Opfer. Der Höchste aller Priester ist zweimal Opfer gewesen: bei seinem Eintritt in die Welt und bei deren Verlassen. Maria war vor beiden Altären anwesend: in Bethlehem und auf dem Berge Golgatha. An dem Tag unserer Priesterweihe hat sie auch an unserem Altar gestanden. Und sie wird in der Stunde des Todes erneut an unserer Seite sein. Maria, Mutter der Priester! In ihrem Leben gab es zwei Lieben: die Liebe zum Leben des Sohnes, die Liebe zum Tod des Sohnes. Die gleichen zwei Lieben hegt sie für jeden Priester, für jeden von uns. In der Menschwerdung war sie das Bindeglied zwischen Christus und Seiner Kirche. Jetzt ist sie das Bindeglied zwischen dem Priester als Opfer und Ihm, „der stets für uns im Himmel eintritt“. In dem Augenblick unseres Todes möchte gewiss jeder von uns der Heilgen Mutter in die Arme gelegt werden, wie Christus, nach dessen Vorbild wir geschaffen sind und dessen Erlösungswerk wir in der Zeit verlängern. Wir sind uns bewusst, Brüder, dass die Worte, die das Priestertum begründen: „Tut dies zu meinem Gedächtnis'“ sich untrennbar mit dem Auftrag des Kreuzes verbinden: „Hier ist deine Mutter“ und sich ganz besonders an den geliebten Jünger richten.
Seine Eminenz Kardinal Dario Castrillón Hoyos,
Präfekt der Kongregation für den Klerus
Quelle: Homepage des Vatikan