Die sieben „Ich-bin-Worte“ Jesu Christi
Die sieben Ich-bin-Worte Christi finden wir im Evangelium des Johannes, welches dem Tierkreiszeichen Skorpion zugeordnet wird; signifikant hierfür ist das Symbol des Adlers, das Johannes begleitet und als Symbol der Auferstehung von den Toten verstanden wird. Dieses kultmagisch orientierte Buch unter den Evangelien zeigt auf, welche Bewusstseinsschritte der Verwandlungsweg vom Menschsein zum Gottsein erfordert. Die Ich-bin-Worte geben dem Namen des höchsten christlichen Meisters Gestalt und Dimension. Auf wunderbare Weise kommunizieren sie mit den sieben Wundern des Johannes-Evangeliums. Wer im Besitz der Schlüssel aus altägyptischen und antiken Einweihungsmysterien ist, erkennt die grundlegenden Züge von Ritual, Initiation und Weihe darin. Ohne Mysterienwissen degenerieren die Evangelien häufig zu einer diesseitigen Morallehre, die den apostolischen Werken nicht gerecht wird. Die richtig verstandene Bibel verlangt der Menschheit weder vordergründige Moral ab noch erteilt sie Anweisungen zu zwischenmenschlicher Sittlichkeit. Die anzustrebende biblische Seinsform will als Frucht des Weges verstanden werden, der selbstverständlich die Keim- und Blütestufen ritueller Weihen vorausgingen. So zumindest versteht es die Geheimlehre. Die eigentliche Herausforderung der Heiligen Schrift lautet demnach nicht: Mensch, werde ein guter Erdbewohner! Vielmehr besteht die schwierige Aufgabe darin, in den erlösten Bewusstseinszustand der Ewigkeit vorzudringen. Vor diesem Hintergrund bedeutet beispielsweise „selig sein“ nicht, hier und heute glücklich zu sein. Selig zu sein bedeutet, im Jenseits wie Diesseits mit dem ewiglichen Auge zu schauen und hüben und drüben unsterblich zu sein. Solche Feinheiten von großer Tragweite werden leicht übersehen, wenn man den Blick ausschließlich auf gutes Benehmen auf Erden richtet. Das überweltliche Gute Gottes nimmt ausnahmslos jeden in seine Obhut, der sich ihm zugewandt hat, ähnlich wie die Sonne, die jeden bescheint, der aus dem Schatten an das Licht tritt. Daraus sei der Rückschluss erlaubt: Nicht der moralisch handelnde Mensch ist ein wahrer Christ, sondern der Verklärte, dessen Lichtgewand sich in Aussehen und Beschaffenheit demjenigen des Menschensohnes angenähert hat. Das hochzeitliche Gewand der Auferstehung kann theoretisch von moralisch niederen Erdenbürgern ebenso getragen werden wie von den Sittsamen. Bürgerliche Ethik gehört noch nicht zu den Kriterien dieses Gnadenbeweises, auch dann nicht, wenn ein großer Teil eines Volkes daran glaubt. An der Vorstellung schon zu Lebzeiten moralisch einwandfrei sein zu müssen, um das Glanzgewand des Himmels anlegen zu dürfen, krankt seit fast Zweitausend Jahren ein falschverstandenes Christentum. Höchste christliche Tugend erweist sich unabhängig von irdischen Taten, sie ist einzig zu erlangen durch das mystische Erleben einer direkten Identifikation mit dem umfassenden Christusgedanken. So wird es uns auf Golgatha mitgeteilt, als Christus zu dem in letzter Minute den Gott erkennenden Schächer sagt: Heute noch wirst du mit mir im Himmelreich sein. Die Erde gleicht einer großen Theaterbühne, wo jeder Schauspieler seine festgeschriebene Rolle mehr oder weniger überzeugend, mehr oder weniger gut spielt. Am Ende des Dramas fällt jedoch der Vorhang für jeden Darsteller, unabhängig davon, ob er die Rolle des Edlen oder Unedlen verkörperte. Der Mensch schlüpft aus seiner irdischen Verpflichtung, legt die Bühnengewänder ab und wischt die Schminke von seinem Gesicht. Was dann noch zählt ist allein das Wachsein der Seele. Nur die erwachten Seelenpersonen wissen, wo sie im Jenseits wohnen und gehen nach Hause, während die Traumverlorenen in astralen Zwischenreichen umherirren.
Platonische Welterklärung als Basis des urchristlichen Gedankens
Mit der christlichen Idee von der Ebenbildlichkeit zwischen Gott und Mensch kommt man der erforderlichen Haltung sehr nahe. Den philosophischen Hintergrund dieser Aussage bildet die Welterklärung des griechischen Philosophen Platon (427-347 v. Chr.), die etwa vierhundert Jahre später eine Religionserneuerung nach sich zog. Das Neue an der Frohen Botschaft der Christenheit liegt darin, nicht nur wie bereits in vorherigen Religionen einen Gesandten über die Erde schreiten zu lassen (z.B. Zarathustra, Mithra, Krishna, Osiris oder Apollon), um die Interessen des Himmels zu vertreten, sondern der höchste Logos, der Alleinige, der höchste Gott, inkarnierte selbst in einem Menschen. Dieser Umstand erwies sich als notwendig, denn für Plato besaßen alle Teile der Schöpfung ein Urbild im göttlichen Bauplan. Die platonischen Particularien galten als Ausströmungen der Universalien. In diesem Sinne bedurfte es auch eines Universals für alle Menschen. Da der Allmächtige in seiner jüdisch monotheistischen Gestaltlosigkeit selbst nicht teilbar sein konnte und deshalb das Universal seiner gesamten Schöpfung bleiben musste, bedurfte es eines Repräsentanten der Menschenseelen, der die Seelen für immer an den Himmel band und einen Sieg der Widersacher unmöglich machte. Dieser war gegeben in dem Fleisch gewordenen, personifizierten Gottessohn mit dem Namen Jesus Christus, Gott und Mensch im selben Wesen, eben der Menschensohn! Der platonischen Idee zufolge geht nun auf alle Teile der Menschheit über, was an ihm bewirkt wird. Nur unter diesem Gesichtspunkt der Universallehre ist das Heilsblut-Sakrament zu verstehen.
Das Sohnsein Christi, verbunden mit der Identität Gottes, als Universalie erklärt somit auch die Menschen als Particularien zu Kindern des Allmächtigen. Sein Opfer, seine Auferstehung, seine Himmelfahrt und seine Wiederkehr in der apokalyptischen Höhle ergießt sich demzufolge in die seelische Erbmasse aller Menschen. Nähe zu dem Menschensohn zu haben bedeutet ebenso, die Nähe zu Gott einzunehmen. Diese Nähe nimmt die Sünde hinweg, sprich: die Absonderung von dem Willen der Schöpfung.
Nur was nicht aus der Gnosis, was nicht aus der Gott-Erkenntnis hervorgeht, bleibt dann noch Sünde. So gesehen wäre Erlösung ein leichtes Spiel, gäbe es da nicht ein schwerwiegendes Kernproblem. Das erdzugewandte Kreatürliche im Menschen hat sich von dem Ursprung der Schöpfung weit entfernt, neigt zur Profanität und sträubt sich gegen den überirdischen Gotteseinbruch. Dies geht so weit, dass ungeheure Ängste in einem Atheisten aufsteigen, wenn der purpurfarbene Rocksaum Gottes auch nur leise vorbeistreicht. Unter solchen Gesichtspunkten ist das Zitat im Corpus Hermeticum (hellenistische Aufzeichnungen alexandrinischer Geheimlehren) zu verstehen:
„Und man wird die Finsternis
dem Licht und den Tod dem Leben vorziehen.
Niemand wird zum Himmel hinauf blicken;
und der Gottesfürchtige wird für irre gehalten,
der Gottlose aber wird geehrt werden, als wäre er ein Weiser.
Den Feigling wird man für tapfer halten
und den Guten wie einen Bösen bestrafen.
Was aber die Seele und das mit ihr Zusammenwirkende betrifft
und was die Unsterblichkeit und alles andere Mysterium angeht,
worüber ich zu euch sprach, Ammon, Tat und Asklepios,
all dies wird man nicht nur verlachen,
sondern obendrein Schindluder damit treiben.
Aber glaubt mir, diese Ungläubigen werden dennoch in Gefahr geraten,
und ein neues Gesetz wird über ihnen errichtet werden.
Denn dies ist genannt das Greisenalter der Schöpfung:
Gottlosigkeit, Ehrlosigkeit und
die Verachtung heiliger Worte.“
Corpus Hermeticum
Der Gegensatz der Profanität liegt auch in dieser gnostischen Formulierung nicht in der Mildtätigkeit oder Sittsamkeit, sondern allein in der Anwesenheit in einem Heiligtum, gemäß der Antonyme lat. profan, vor dem Heiligtum liegend, und fanum, das Heiligtum. Auch der noch so charakterlich einwandfreie Mensch bleibt biblisch gesehen im Wesenskern ein Sünder, ein Abtrünniger. Gerade dies verstehen zur Zeit Jesu auch die Pharisäer nicht mehr, sie glauben von Sünde frei zu sein, weil sie die Gesetze der Thora in ihrer äußeren Struktur befolgen. Aber nach außen demonstrierte Sittlichkeit und ein verbissenes Einhalten von alttestamentarischen Vorschriften und Geboten befreit keinen Deut von der adamitischen Erbsünde. Erst wenn in Adam Kadmon, dem unbewussten Universal der Menschheit, die Identifikation mit dem voll bewussten Sohn der Gottheit erwacht, wenn diese Verwandtschaft als Realität gespürt wird, ereignet sich die „Ver-Sohn-ung“, also die Versöhnung von Himmel und Erde. Dann vertreibt allein diese Gottnähe allen Sündenbegriff.
Die Ich-bin-Worte als Ausdruck der Brüderlichkeit von Christusgeist und Mensch
Um die Bruderbande zu dem Menschensohn für jeden Einzelnen zu festigen, gibt es die sieben Ich-bin-Worte. Diese errichten eine Brücke von der Erde über den Bereich des Sohnes bis zu Gottes Thron. Anders gesagt, die mittleren Pfade Tav, Samekh und Gimel auf dem Baum des Lebens werden beschreitbar durch die reichende Hand der Ich-bin-Worte. Diese können nur initiatisch verstanden werden, denn sie befinden sich ausschließlich im Johannes-Evangelium, das die Eingeweihten für sich als Schrift wählen, da es die Pfade höheren Strebens erläutert. Diese Wahl ist nicht selbstverständlich, da die meisten Höhepunkte des Lebens Jesu in Matthäus, Markus und Lukas erzählt werden, aber das Evangelium des Adlers offenbart neben vielen anderen magischen Strukturen auch die Ich-bin-Worte. In ihnen gibt sich Christus den Menschen zu erkennen, wie er sich Johannes zu erkennen gab. Wer sagt „Ich bin“ ist im Bewusstsein seiner selbst, er besitzt ein Ego und zeigt auf sich als etwas Einzigartiges. Wenn Jesus „Ich“ sagt, so ist dies dennoch verschieden von einem Menschen, der das „Ich“ zuviel in seinem täglichen Leben auf den Lippen trägt. Das normale von Geburt an mitgegebene Menschen-Ich hat sich von Gott abgesondert. Das inwendige Gottes-Ich, das höhere Selbst Christi hingegen, bleibt von Anfang bis Ende mit Gott verbunden. In diesem Sinne ist Christus das Gottes-Ich im Menschen. In der Mystik besteht nun das Gebot, das erdzugewandte Menschen-Ich abzubauen und statt dessen das Gottes-Ich zu Worte kommen zu lassen. Ein solches mystisches Konzept wird jedoch sogleich lächerlich, wenn man das Wörtchen Ich im profanen Handeln einfach versucht wegzulassen. Solange das Gottes-Ich nicht aus dem Menschen spricht, bringt der Verzicht auf den Gebrauch des Ichs überhaupt nichts. Im Gegenteil, ein solch naives Unterfangen steigert sich in eine heillose Frömmelei, die sich eines Tages bitterlich rächt und den Menschen zu Schattenarbeit zwingt. Was heutzutage unter dem hinkenden Begriff „spirituelle Krise“ gehandelt wird, basiert auf den hier dargelegten Missverständnissen innerhalb einer Glaubenslehre, sei sie östlich oder westlich. Mit den Ich-bin-Worten knüpft Jesus an den höchsten Gottesnamen an: EHEJEH – Ich bin der ich bin. In keinem anderen Evangelium spricht Jesus so häufig in der Ich-Form wie in der johanneischen Schrift. Über den Menschensohn geht der Christus-Impuls in die Menschheit ein: Volle Individualität zu erlangen und diese in Gott einzulagern, darin liegt das Besondere am christlichen Heilsweg. In dem Mysterium der sieben Ich-bin-Worte nimmt die Auflösung des Ego keinen Raum ein. Keine vorschnelle Ent-Ich-ung ist gefordert, denn das wäre christlich gesprochen nur der Frieden von Eden, die anfängliche Gottesnähe im Schöpfungsgarten, wo unbewusste Einheit regiert, Einheit ohne Selbsterkenntnis. Aber letztlich bereitet es Gott keine große Freude, von einem Menschen geliebt und verehrt zu werden, der noch nicht von ihm weggegangen ist, der ihn nur instinktiv liebt, wie ein Jungtier seine Mutter. Gott begehrt die erwachsene heimkehrende Liebe des vertriebenen Adams, wie sie ihm im Neuen Jerusalem zuteil wird. Um den Eden-Frieden geht es auch Christus nicht mehr, er sagt Shalom und meint den Jerusalemer Frieden. Jerusalem ist kein archaischer Garten voller Pflanzen und Tiere, sondern eine leuchtende Stadt aus Edelsteinen mit Bewohnern, die ihre Trieb- und Leibseele hinter sich ließen. Nur Könige (erlöste Egoanteile im Menschen) und Priester (Mystiker, Erkennende) dürfen in ihrer Geistseele in die Stadt eintreten, um sich dort mit der Gottseele zu vermählen. Das Christentum verlangt deshalb nicht das unmittelbare Leerwerden von Absichten, es besteht jedoch auf der Transformation persönlicher Absicht zugunsten Gottes. Der Abendländer bleibt bis zu seinem Ziel weltzugewandt, bis er sein eigenes kleines Menschen-Ego aus der namenlose Masse erhöht und mit dem Menschensohn identisch gemacht hat. Erst wenn ein Mensch mit dem Universal verschmilzt, kann er genau wie Christus sehr selbstbewusst sagen: Ich und der Vater sind Eins. In dieser Tatsache liegt das Wesentliche des Christus-Gedankens, das unter anderem an den Intonationen erkennbar wird: Das hinaufschmetternde HALLELUJAH im von Menschenkunst erbauten Dom löst das wurzelsuchende AUM in der naturgegebenen Felsenhöhle ab.
Wer bin ich?
Wer bin ich und wer soll ich sein? So ergeht die tiefste mystische Frage des Christentums. Die Antwort lautet: Du bist eben nicht nur Mensch, auch nicht nur Menschheit, sondern du sollst Menschensohn werden, der Christus nachgefolgt und sich mit ihm unlöslich verbunden hat. Im Paradies, in Eden, wird die Frage an den Menschen noch räumlich formuliert: Wo bist du, Adam? Das ist die Frage an den Kindzustand des Menschen, an den soeben erschaffenen, den unbewussten Menschen, der in Eden vegetiert und nach seiner Verbannung existiert. Jesus hingegen wird von Pilatus gefragt: Wer bist du? Dies bezieht sich auf die individuelle Persönlichkeit, auf den erwachsenen Menschen, der den Garten Eden längst verlassen hat und das Paradies mit Hilfe seiner eigenen Erfahrung neu definiert: JERUSALEM. In seinem sinngemäß oft wiederkehrenden Wort: Der mich gesandt hat, ist mit mir; er lässt mich nicht allein, weil ich allezeit tue, was ihm wohlgefällt, liegt der Beweis für das Fernsein der Ich-bin-Worte Jesu von selbstherrlicher Egozentrik. Sie sind Gottesbild, das Ebenbild Seiner Glorie; sie entspringen einer heiligen Demut, die nur Ergebnis eines errungenen Sieges über den Hochmut sein kann.
Die Ich-bin-Worte erfüllen demzufolge den Auftrag einer höheren Instanz, sie sind Ausdruck des kosmischen Dienstgrades Jesu. Diesen Bereich berührt irdische Dienstbarkeit niemals. Diakonie, also Arme speisen, Kranke pflegen oder Boden schrubben mag ein guter Anfang sein, ersetzt jedoch die heilige Demut nicht. Diakonie in sichtbarer Form bleibt oftmals äußere Kompensationen eines inneren Hochmuts, freiwillig geleistet, wenn er erkannt wurde, unfreiwillig durch das Schicksal eingeklagt, sofern er im Schatten der eigenen Wahrnehmung liegt. Wer nicht bereit ist, eine gewisse Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber aufzubringen, erleidet den Mangel an Selbsterkenntnis und wird Opfer seines Schicksals. Erst durch die persönliche Identifikation mit den Ich-bin-Worten Jesu beginnt eine kosmische Dienstbarkeit jenseits persönlicher Interessen.
Jesus flieht die Welt nicht, er nimmt sein Kreuz auf sich, macht sich die Welt untertan, indem er ihren Gesetzen Gefolgschaft leistet. Darüber hinaus wirkt Jesus Wunder und definiert sich damit als Eingeweihter. Was für diesen ein einfacher Prozess ist, erscheint dem Ungeweihten als Wunder, denn er ist gezwungen, sich zu wundern. Die sieben Ich-bin-Worte gehen einen harmonischen Bund mit den sieben Wundern im Johannes-Evangelium ein; erstere stehen für die Individualkraft Jesu, und die Wunder können wir als Offenbarung dieser Kraft erkennen. In der Begegnung mit der Samariterin am Brunnen bereitet Jesus die sieben Ich-bin-Worte vor und sagt zu ihr: Ich bin das Gottes-Wort, als solches spreche ich mit dir. In den Geheimen Figuren der Rosenkreuzer spricht Christus: Ich bin der himmlische Tau und das Öl der Erde. Ich bin das feurige Wasser und das wässrige Feuer, und ohne mich kann in der Welt nichts leben. Wir erkennen in beiden Selbstbezeichnungen die Identifikation des Universals mit seinen Partikeln.
1. BROT: Solare Speisung
Ich bin das Brot des Lebens (Joh 6, 35)
Wunder: Brotvermehrung und Speisung der Fünftausend (Joh 6,5-13)
Brot ist seit Beginn des zivilisierten Daseins eine Grundnahrung, die sich zu jeder anderen Speise gesellt. Da es anfänglich rund gebacken und mit einem Kreuz versehen wurde, steht es analog für den Geist, wie die Sonne und der Tierkreis. Welche Lebenssituation sich der Mensch auch einverleibt, durch den solaren Gesichtspunkt ergänzt, wird sein Schicksal ihm zur Erkenntnis gereicht. Wer keine solare Schau besitzt, verwickelt sich ungut in der Welt, da er die Schuld für die eigenen Verfehlungen stets im Außen sucht. Mit Hilfe der solaren Sichtweise weiß der Mensch sich von der Gottheit erschaffen und sieht in allem, was ihm widerfährt, eine göttliche Unterweisung. Allein mit diesem seelischen „Brot“ erkennt man die Wahrheit in folgendem Zitat:
„Es gibt nichts wirklich Böses.
Was uns als Böses erscheint,
ist von Gott aus gesehen
eine Erweckung des Guten.“
Franz Spunda (1890-1963)
Bei der Speisung der Fünftausend gibt es zwei Fische und fünf Brote. Die Fische stehen für die Erneuerung der Religion im Fische-Zeitalter. Die fünf Brote symbolisieren die Quintessenz der höheren Erkenntnis, die in das Menschengeschlecht Einzug halten soll. In der wunderbaren Brotvermehrung multiplizieren sich die Brote mit Tausend. In der Zahl Tausend verbirgt sich das ägyptische Wort für Christus, Kh-RST, dessen Lettern im hebräischen Alphabet einen gemeinsamen Zahlenwert von Eintausend haben (Qoph – 100, Resh – 200, Shin – 300, und Tav – 400 ergeben zusammen QRST oder Kh-RST). Kh-RST oder hellenistisch Chrestos. So lautete der Titel für einen Initiierten in die Hochgrade der Osiris-Weihen, und das Wort bedeutete auch damals schon „der Gesalbte“. Die Letzten werden die Ersten sein – diese Formel bezieht sich auf die letzten vier Pfade im Lebensbaum, die in den genannten hebräischen Buchstaben schwingen. Christus kommt als letzte Menschwerdung Gottes bis zur Erde herab. Er bleibt dennoch der Erstgeborene, denn sein Wesen ist dem Thron der Herrlichkeit am nächsten, weshalb er das Werk der Erlösung derer vollziehen kann, die sich mit ihm identifizieren.
Die Brot-Speisung ist das Symbol der Verabreichung des solaren Wissens. Nachdem die Fünftausend gegessen haben, ist noch etwas übrig geblieben. Mit der Anweisung: Sammelt die Brocken ein! meint Jesus die uralte Lehre, die alle Prinzipien des Tierkreises umfasst. Also werden zwölf Körbe gefüllt, und zwölf Apostel tragen das Solare darin in die Welt hinaus. Der Tierkreis mit seinen daraus hervorgehenden persönlichen Horoskopen eignet sich auch für eine lunare Betrachtung, d. h. für die Untersuchung planetarischer Analogien im persönlichen Schicksal. Aber die unerlässliche Erhöhung dessen liegt in dem Wissen, dass in den Körben des Horoskops, sprich in seinen Zeichen, nichts anderes liegt als die solare Speisung der Götter. Ambrosia sagen die Römer, Manna die Juden und Brot Christi die Christen. Wer diese solare Speisung im Tierkreis eines Tages auffindet und sich in seinem Wesen davon erhöhen lässt, betreibt Astrologie (Sternenlogos, Sternenvernunft) im besten Sinne der Alten.
Das Brot-Wort kleidet sich in drei Gewänder ein, die in demselben Kapitel zu finden sind. Zum ersten heißt es: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Wer an mich glaubt, wird nicht mehr dürsten. Hunger und Durst beziehen sich hier weniger auf das körperliche Verlangen als auf den Durst der Seele. Von Heiligen ist freilich bekannt, dass in dem Maße, wie sie Gott näher kommen, sie weniger Nahrung benötigen als andere Menschen. Darum setzt sich das Gleichnis bis in das Körperliche fort, wenn ein gewisser Grad an Illumination erreicht ist. Im zweiten Gewand des Brot-Wortes hören wir: Ich bin das Brot des Lebens, Eure Väter haben in der Wüste Manna gegessen und sind gestorben. Hier aber ist das Brot, das aus dem Himmel herabkommt, dass man von ihm esse und nicht sterbe. Hier spricht Christus von der Überwindung des Todes, von initiatischen Wiedergeburtsriten, die durchgeführt werden müssen, um dafür zu sorgen, dass die Seele auf ihrem Jenseitsweg nicht vergeht. Auf der Wüstenwanderung wurde der leibliche Hunger des Volkes Israel gestillt von dem Brot, das vom Himmel regnete, aber es drang nicht in die Kollektivseele durch, darum sagt man, sie seien gestorben und meint das geistige Sterben einer Menschheitsstufe, die noch keinen Anteil an dem himmlischen Universal des Menschensohnes hat, das heißt, den Gott im Himmel zwar verehrt, ihn jedoch im eigenen Herzen nicht antrifft. Das dritte Gewand lautet: Ich bin das Brot, das lebende, das aus dem Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben, und zwar ist das Brot, welches ich geben werde, mein Fleisch für das Leben des Kosmos. In den ersten beiden Gewändern werden dem Leben das Brot der solaren Tradition und die Patenschaft des Geistes zugefügt. In der dritten Formel begründet Christus den Ritus der Eucharistie, indem er seinen eigenen Leib als Brot gibt. Damit ermahnt Jesus an das kosmische Gesetz, das den Eingeweihten vertraut ist: Jede Wesenserhöhung vollzieht sich durch das rituelle Opfer niederer Anteile. Eine Erhöhung ohne Opfer bleibt das Werk eines machtbesessenen Dämonen. Mit dem Opfer beginnt das Werk der Heiligen. Je opferbereiter ein Mensch wird, umso liebesfähiger ist er auch. Christus, das Urbild opfert sich, und dies wirkt sich auf alle Menschen aus. Das tägliche Brot erhebt sich zum vereinigten Liebesmahl, zur Agape für alle Menschen.
2. LICHT: Schattendurchlichtung und höhere Erkenntnis
Ich bin das Licht der Welt (Joh 8, 12)
Wunder: Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1-41)
Licht steht in der Einweihungstradition immer für den Aspekt des Sonnenaufganges. Oriente lux, das östliche Licht zur Stunde des Sonnenaufgangs, steht für eine geistige Horizonterweiterung, für eine höhere Erkenntnis, eine mystische Tempellehre. Die Gewänder des Licht-Wortes heißen: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in der Finsternis, sondern hat das Licht des Lebens. Diese Aussagen eröffnen die Perspektive ewigen Wachseins und schließen den Besitz des Lichtes ein, sodass man selbst zu leuchten imstande ist.
Das Wunder von der Heilung des Blindgeborenen schließt sich dem Licht-Wort an. Die Jünger fragen, wer Schuld an der Blindheit habe, er selbst oder seine Eltern. Jesus bekundet, dass er nur blind sei, damit das Werk Gottes sich an ihm offenbare. Und er fügt das folgende Wortgewand hinzu: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Dann streicht er dem Blinden Erde mit seinem Speichel gemischt auf die Augenlider. Damit speist er ihn mit seinem eigenen Wesen, denn Speichel ist ein intimes Sekret. Jesus schickt ihn danach in den Teich Siloah, um sich dort zu reinigen. Dieser Teich gilt als Heilsbrunnen, weshalb man von dort das Wasser für heilige Zeremonien nimmt. Das Wasser des Teiches holt verdrängte Seelenaspekte hervor. In der Sprache griechischer Mystik ist die Bewohnerin des Teiches die Göttin Hekate, die dunkelste aller Mondgöttinnen. Hekate zieht den Aspiranten in die Tiefe und weiht ihn in sein zeitloses Geheimnis ein, lässt ihn gleichsam in seinem Schattenbuch lesen. Wenn das Licht im Osten richtig strahlen soll, so muss ein uralter Teich im Westen gefunden werden, wo mit Hilfe einer Mondgöttin der Abstieg in den Sumpf der Urseele erfolgen kann. Therapeutisch gesprochen geht der Blindgeborene nicht in dem Teich baden. Er reinigt sich auch nicht nur physikalisch von der Erde, die Jesus auf seine Lider strich. Er sucht vielmehr im tiefen Teich einer geführten Trance nach seinen versunkenen Seelenanteilen. Davon wird er sehend. Fehlt dieser Abstieg in das Urgrauen auf dem Weg zum Licht, so manifestieren sich die Schatten aus dem Unbewussten, greifen den Strebenden an und machen ihn krank. Kaum ist der Blinde im überirdischen Sinne sehend geworden, gerät er in Konflikt mit den Pharisäern, da Jesus ihn am Sabbat geheilt hat, obwohl an diesem Tag jede Arbeit untersagt ist. Die im äußeren Gesetz erstarrten Anteile der Welt schlagen erst einmal zu, wann immer sich ein Mensch im geistigen Sinne positiv verändert. Wer erwacht, dem wird eine gehörige Portion Missgunst entgegengebracht, da er den Verdacht erregt, es ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu.
Erfährt der Mensch eine Initiation, so inspiriert ihn das dort erhaltene Licht, den Weg der Selbst- und Gotterkenntnis fortzusetzen. Denn ist das Licht einmal als Erkenntnis im Menschen entzündet, dehnt es sich unaufhaltsam weiterhin aus. Darum soll sich der Geheilte öffentlich bekennen und sogar im Bezug zu anderen vollumfänglich selbsterkennend werden. Also spricht auch der Geheilte ein Ich-bin-Wort. „Ich bin es!“, ruft er aus, als jene, die ihn vorher blind kannten, wissen wollten, ob er es sei. Seine zweite Begegnung mit Jesus lässt die innere Lampe so hell erstrahlen, dass äußere Bedingungen das Licht nicht mehr ersticken können. Schließlich bekundet Jesus: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. Christus kehrt gleichsam die Blickrichtung um, von außen nach innen. Er macht den Sehenden bewusst, wie sehr sie ohne den Abstieg in den tiefen Teich, den magischen Spiegel der Selbsterkenntnis, Blindgeborene bleiben werden.
3. TÜR: Schwellenwanderung
Ich bin die Tür (Joh 10, 9)
Wunder: Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda (Joh 5, 1-9)
In dem Tür-Wort knüpft Jesus an die Türsymbolik der Mysterientraditionen an. Eine Tür führt in neue Räume, die Tür verbindet den Menschen auch mit dem Wort Gottes, denn von dem Pfad Daleth aus, der Tür genannt ist, erhält man Einblick in das Allerheiligste. Auch im Tierkreis heißen die kardinalen Zeichen Türöffner von lat cardinis, Türangelpunkt. Ein Kardinal versteht sich somit als ein Türöffner zum Heiligtum. Ägyptische Wandgemälde zeigen häufig Türen, manchmal gleich mehrere übereinander, zum Zeichen für das Durchschreiten der Himmelstüren und Unterweltspforten. Das Unterweltsbuch der Ägypter heißt darum auch Pfortenbuch. Die gnostische Jenseitsvorstellung richtet sich sehr nach ägyptischen Vorbildern, darum hat die Seele nach ihrem Ableben zwölf Pforten zu durchgehen, die in die zwölf Urprinzipien führen, deren Qualität sie in sich selbst wiederfinden soll. In der Terminologie der Tempelritter erscheinen ebenfalls neun sichtbare und drei unsichtbare Pforten, die den neun Schwellen entsprechen, welche die Gold- und Rosenkreuzer überschreiten.
Auch das Tür-Wort hat Gewänder, die eine Definition geben. So kommt es in diesem Zusammenhang zu der Aussage: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber (Joh 10. 9). Dies meint, wer ohne gesegnete Tradition versucht, höhere Bewusstseinsebenen zu erschließen, ist derer nicht würdig. Ob Drogen oder Selbsttäuschung, das eine ist so schlecht wie das andere. Ein nächstes Wortgewand lautet: Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe. Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme. Der wahre Hirte ist an einer magisch wirksam arbeitenden Tradition angebunden. Nur aus dieser Anbindung heraus kann er einen in der Erde Erstarrten, also eine “gelähmte Seele” über die Schwelle helfen. Dies ist ein Umstand, der von den meisten Therapeuten heutzutage vergessen wird, meinen sie doch irrtümlich, ihre Kenntnisse von Psychotechniken wären ausreichend. Da auch die Jünger diese Rede Jesu nicht verstehen, wiederholt er sie in einem Ich-bin-Wort: Ich bin die Tür zu den Schafen, wenn jemand durch mich hindurchgeht, wird er selig werden, er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Hier wird die Esoterik des Johannes-Evangeliums ganz offenbar: Christus übernimmt alle zukünftigen Einweihungsmysterien und macht sich selbst zu deren Paten. Johanneisch nennen sich die Nachfolgeorganisationen der Gnostiker. Es sind Tempelritter, Freimaurer, Rosenkreuzer, Gralsritter und andere Brudergemeinden; allesamt sind sie christlicher Wurzel, freilich mit höchster Toleranz anderen Religionen gegenüber.
Folgendes Wunder offenbart das Wesen der Tür-Worte. Bei dem Schaftor, das zu einer Schafherde führt, liegt der Teich Bethesda, das bedeutet Haus der Barmherzigkeit, der Gnade (Beth und Chesed). Dieser Teich ist bekannt für seine Heilungen, es befindet sich eine Art unterirdischer Strudel darin. Man sagte zu Jesu Zeit, er würde von einem Engel bewegt, der ab und zu hinein stiege und nach dem Holz sehe, das seit dem salomonischen Tempelbau dort liege und ein Teil des Aaron-Stabes sei. In der Nähe dieses legendären Teiches trifft Jesus einen seit 38 Jahren Gelähmten. Aus eigener Kraft gelangt er nicht zu dem Teich hin. Jesus fordert ihn jedoch auf, sich zu erheben und zu dem Wasser zu gehen. Da steht er auf und ist gesund.
Gelähmt sein heißt unbeweglich sein. Wer stets in demselben Bewusstseinsraum verweilt, ist wie gelähmt, er dreht sich nur noch um sich selbst, harrt bei einem einzigen Lebensthema aus und lässt keinen Neubeginn zu. Christus führt über die Schwelle in neue Räume und erweitert den Horizont nach oben. Einweihungsriten stellen den Suchenden häufig vor geschlossene Türen und öffnen sie rituell, damit der Myste in neue Erkenntnisräume eingehen kann. Einen radikalen Wandel im Bewusstsein schafft der Mensch ohne Bruderkette nicht. Weder das Studieren der Geheimlehre noch diesseitig ausgerichtete Therapien tun die Pforten zur Ewigkeit auf.
4. HIRTE: Herold der Bruderschaft
Ich bin der gute Hirte (Joh 10, 12)
Wunder: Wandeln auf dem See (Joh 6, 16-21)
Christus ist in diesem Ich-bin-Wort der Hirte, die Bruderschaft die Herde. Ganz bewusst nimmt man als kultische Führerfigur durch die Mysterien keinen lebenden Menschen, der die Normalität nicht durchbricht. Es muss einer schon auf dem See wandeln können, um ein guter Hirte zu sein. Davon gibt es nicht allzu viele, also verlässt man sich auf den Oberhirten und verknüpft Wesensteile von ihm mit Figuren wie Echnaton, Apollonius von Tyana; Hiram, Johannes oder Christian Rosenkreuz. Das entsprechende Wunder zum Hirten-Wort ist das Wandeln auf dem See. Als Universal aller Menschenseelen geht der Menschensohn über das Wasser, das bedeutet, er behält stets seine Individualität und bleibt frei von dem Sog der Kollektivseele im Astralbereich. Ergreift er mit seiner Hand den Menschen, wie er es an Petrus demonstriert, so errettet er diesen vor dem astralen Untergang.
Wer solch einen Hirten hat, darf sich wohlbehütet wissen. Gemäß des alexandrinischen Corpus Hermeticum, wo Hermes von Pymander, dem Menschenhirten, Unterweisung und Erlösung erfährt, macht sich auch Jesus im Hirten-Wort zu einem Boten, der sich aus dem Inneren des Menschen kundtut. Er stellt sich vor und offenbart, wer er ist: Der gute Hirte.
Das Hirten-Wort trägt viele Gewänder: Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe. Da heißt es manchmal, beharrlich auf dem Pfad der Gralssuche weiterziehen zu müssen und nicht am Wegrand bei jenen zu verweilen, die Montsalvat weder sehen noch wissen, welcher Verzicht an einem bestimmten Punkt des Weges unweigerlich eingeklagt wird, um diesem Heilsberg näher zu kommen. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirte ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt die Schafe und jagt sie auseinander. Der schlechte Hirte flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Der Mensch findet nicht zu seiner kosmischen Aufgabe, wenn er keine Anbindung am Himmel besitzt und eine materielle Belohnung für seinen Gottesdienst erwartet. Er sollte die heiligen Dinge ohne Kosten- und Nutzenrechnung in seinem Herzen bewegen, nur dann wächst seine Aufgabe und mit ihr die Verantwortung. Dies geht einher mit dem Wissen um die Einlösung eines hehren Gesetzes, das nicht zurückschreckt, Konsequenzen einzuklagen. Wenn der Hirte dies nicht nur weiß, sondern sogar erfüllt, darf er die folgenden Worte formulieren: Ich bin der gute Hirte. Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. In diesem so einfach klingenden „Kennen“ liegt das Geheimnis des Traditions-Schatzes, den jede Religion besitzt, unabhängig davon, ob der Einzelne den Schatz hebt oder nicht. Der Hirte stellt sich zwischen Mensch und Gott und verbindet sie miteinander. Und er weiß, dass der Abstand so ungeheuer groß sein kann, die Verschiedenheit so gewaltig, dass es ihn als Mittler zerreißen muss. In dieser Bereitschaft liegt das Opferwerk von Gottessöhnen und Heiligen. Der innere Geistesfunke bleibt auch dann bei der Seele, wenn der Mensch ihn unwissentlich bekämpft, er verlässt die Seele nicht, obwohl er die Freiheit dazu besäße. Er gibt sich bewusst hin und zeigt sich global beamtet. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind. Auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören. Dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Das Christusprinzip sieht sich selbst überkonfessionell, es ist das Universal, das seine Partikel sammelt und versorgt.
5. AUFERSTEHUNG: Wiedergeburt durch Mysterienschlaf
Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11, 25)
Wunder: Auferweckung des Lazarus (Joh 11, 1-44)
Im Evangelium des Johannes findet der rituelle Mysterienschlaf, wie er in der Antike üblich war, seine mythologische Einkleidung in der Geschichte von der Erweckung des Lazarus. Unter den zwölf Aposteln war Johannes der einzige, der gründlich in die geheime Bedeutung der christlichen Lehre eingeweiht war. Mit diesem Jünger konnte Jesus esoterisch kommunizieren, alle anderen verstanden nur die exoterische Lehre, wie sie sich später in der weltzugewandten Petruskirche ausdrückt. Das Gleichnis von Lazarus trägt in vielen Schichten das Signum des Tempelschlafes. An Lazarus wird gezeigt, wie der Astralkörper nicht mehr locker genug mit dem physischen Körper verbunden war, weshalb er die Projektion seiner Psyche nicht überlebte. Jesus weiß um den initiatischen Aspekt des Tempelschlafes, jedoch Martha und Maria, die Schwestern des Lazarus, wissen es nicht, denn sie senden Boten zu Jesus und lassen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank.
Aus der Formulierung „den du lieb hast“ leiten viele ab, Johannes und Lazarus seien identisch. Tatsächlich gibt es eine griechische Ikone, die Lazarus im Grab zeigt und nur elf Jünger außen um das Grab herum. Als Jesus die Botschaft der Schwestern vernimmt, spricht er die großen Worte, die den tieferen Sinn des Tempelschlafes wunderschön beschreiben: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. Das Wort „Ver-Herr-lichung“ will in diesem Zusammenhang als Annahme der göttlichen Macht verstanden werden. Die Omnipotenz Gottes und der Sonnenlogos als Mittlerprinzip werden verherrlicht. Das kleinere Ich trägt das größere Selbst. Der Mond nimmt das Licht der Sonne ganz auf.
Jesus bleibt anfänglich gelassen, da er die Technik des Mysterienschlafes kennt. Dann aber macht er sich auf den Weg zu jener Höhle, in der Lazarus seit vier Tagen liegt. Das ist ein halber Tag zu lange für den induzierten Seelenflug. Jesus weiß, Lazarus ist wirklich bei der Prozedur gestorben. Der Astralkörper war gelöst, fand jedoch nicht mehr in den physischen Körper zurück. Als Jesus den Ort erreicht, findet er die Schwestern Martha und Maria in Trauer. Jesus spricht dann zu Martha die traditionellen Worte der Essener und anderer Orden, die anlässlich einer zweiten Geburt gesprochen werden: Dein Bruder wird auferstehen.
Martha versteht dieses geheime Mysterium nicht und glaubt, Jesus rede von der Auferstehung am Jüngsten Tag. Dieser profanen Haltung des weiblichen Prinzips wird nun die männliche, geistige Unterweisung gegenübergestellt, indem Jesus die sehr bekannten Ich-bin-Worte spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Hier erklärt Jesus, dass er den Christusgeist trägt und somit die Kraft besitzt, dem Menschen jenen begehrten Auferstehungsleib (Diamantleib) zu geben, sofern dieser bereit ist, sich mit dem Geist des Alls rituell zu verbinden. Das Wort glauben führt die Menschen bisweilen zu einer machtlosen frommen Haltung, was jedoch nicht der wirklichen Aufforderung der Heiligen Schrift entspricht, wenn dort von Glauben die Rede ist. Glaube ist Gnostik, Erkenntnis, und gehört zu einer Jupiter-Analogiekette, bedeutet also in der Bibel niemals blindes, unwissendes Vermuten oder passives Hinnehmen. Wirklich glauben heißt vielmehr, innere Erfahrungen gemacht zu haben, die keiner äußeren Beweise mehr bedürfen, da sie in eine absolute Gewissheit führten und sich in einem aufrichtigen Bekenntnis offenbaren. Wenn nun Jesus die Menschen auffordert, an den Christus in ihm zu glauben, dann will er sagen, sie sollen den göttlichen Schöpfungsimpuls in ihm erkennen. Wenn sie diesen dann schließlich sehen können, sind sie selbst soweit erkennend, dass sie in ihrem höheren Wesensanteil erwachen und mit dem Großen Werk beginnen können, ihren unsterblichen Leib weiter auszubilden. Deshalb erwidert Martha, nachdem sie erkannt hat: Ja, ich glaube, dass du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
Jesus lässt den Stein vor der Höhle, in welcher der verstorbene Lazarus liegt, wegheben und ruft die Worte: Lazarus, komme heraus! In diesem Wunder erleben wir Christus in seiner Tätigkeit als Hohenpriester, der einen Kandidaten laut bei seinem Namen rufend aus dem Mysterienschlaf zurückholt. Weil Christus der Geist selber ist, gelingt es ihm, den abgetrennten Astralkörper des Lazarus wieder an dessen Physis zu binden. Bei den folgenden Bibelworten erfasst man die Ähnlichkeit mit den Mumifizierungspraktiken der ägyptischen Osiris-Weihen: Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Gesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Auch die Worte, die Jesus spricht, wenn Lazarus das Grab verlassen hat, entstammen der Mysteriensprache, er sagt nämlich: Löset die Binden und lasst ihn gehen!
Was geschah hier? In welcher Hinsicht hat Jesus Christus in diesem Mythologem den Tempelschlaf in seiner Durchführung geändert? Die Antwort lässt sich sehr kurz formulieren: Die irdische Person des Lazarus wurde miteingeweiht. Darin lag das Neue! Das sterbliche Ich erhielt in dem traditionellen ägyptischen Tempelschlaf keine bewusste Erinnerung an frühere Leben oder makrokosmische Exkursionen. Es befand sich in einem hypnotischen Schlaf, und lediglich der Astralleib unternahm eine ausgedehnte Reise in die Bilderwelt jenseits der vordergründigen Wahrnehmung. Das Ego des Menschen behielt bloß vage Eindrücke einer langen Reise zurück, die ihn klar werden ließen, dass wohl in ihm noch viele andere Identifikationen vorhanden sein mussten als die aktuelle. Aber leider gelangten diese Bilder nicht in die Bereiche des Intellektes, und vermochten somit nicht in eine Erkenntnis erhoben zu werden. Lazarus starb in der alten Praktik wirklich. Der begleitende Mystagoge konnte seine Seele nicht mehr in den stofflichen Körper zurückholen, da sie mit der Ablösung des Astralleibes in die Transition gegangen war. In ägyptischen Bildern ließe sich sagen, Lazarus trat gewissermaßen nach seinem körperlichen Tode in Kontakt mit Osiris und durfte in seinem Lebensbuch lesen. Das brachte Lazarus die volle Jenseits-Weihe. Er sah und erkannte seine verdrängten Identifikationen, und seine Seele vereinte sich mit ihren höheren Anteilen. Der Sonnenlogos selbst, Christus, der Schöpfungsimpuls, holte Lazarus wieder in das Leben, und Lazarus durfte die komplette Erinnerung an sein Wissen behalten. Darum sagt Christus: Ich bin die Auferstehung und das Leben.
6. WEG, WAHRHEIT, LEBEN: Ewigkeitsbewusstsein
Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14, 6)
Wunder: Heilung des Sohnes des königlichen Beamten (Joh 4, 46-54)
Dieses sechste Ich-bin-Wort erfolgt nach der Frage des ungläubigen Thomas, der sagt: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst, wie können wir den Weg wissen. Da Christus aber die Erde verlassen wird sagt er: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich. Diese Aussage bezieht sich wiederum auf den vorbereiteten Weg, auf eine geprüfte Tradition. Das „Ich bin“, das Gottes-Ich im Menschen, ist der Weg. Jesus gleicht als der Wanderer über die Erde dem Menschen, Christus aber fährt gen Himmel, darum ist Christus der Weg zu Gott. Die einzige Wahrheit ist die Gottseele, die Neshamah in der Kaballah. Wer diese bereits auf der Erde verwirklicht, lebt auf der Bewusstseinsebene mit der Bezeichnung Neues Jerusalem. Wahrheit ist darum hier keine Erdenwahrheit. Die Erde ist das Land der Lüge, Wahrheit gibt es nur außerhalb von Raum und Zeit. Auch unter Leben versteht sich hier nicht das diesseitige, sondern der Urgrund aller Lebendigkeit, das Wasser aus der Quelle des Allmächtigen, ein Leben, das der Mensch von Natur aus noch nicht besitzt, das er sich aber auf dem Pfad Christi erarbeitet.
Das Wunder zu diesem Ich-bin-Wort ist eine Fernheilung. Jesus weiß, eigentlich ist es verpönt, solche Wunder außerhalb der Tempelmauern zu zeigen, aber das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind, also offenbart er, was aus der Sicht der Pharisäer verborgen bleiben muss. Jesus begegnet einem königlichen Beamten, dessen Sohn todkrank ist; er bittet Jesus in sein Haus zu kommen. Aber Jesus geht nicht mit, er sagt nur: Gehe hin, dein Sohn lebt! Der Hohe Beamte wandert heim und kommt am nächsten Tag an. Seine Knechte eilen ihm entgegen: Dein Kind lebt! So rufen sie. Es ging ihm von der siebten Stunde des gestrigen Tages an besser. Dies war der Moment, in dem er mit Jesus gesprochen hatte. Das kranke Kind des königlichen Beamten kann auch als seine eigene Seele gelesen werden, die Seele liegt immer so lange wie tot im Menschen, bis sie erweckt wird.
7. WEINSTOCK: Magische Tradition
Ich bin der wahre Weinstock (Joh 15, 1)
Wunder: Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1-11)
In dem letzten Weinstock-Wort findet der christliche Weg seine Zusammenfassung. Jesus ist der Weinstock, Gott der Weingärtner, die Menschen sind die Reben. In der Folge dieses Wortes sagt er: Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Dies wird vielfach zu einfach gedeutet, da man sich gerne etwas vormacht und glaubt, es sei leicht, alle Menschen zu lieben. Aber Menschen lieben sich nicht zu jeder Zeit wirklich. Im Alltag ist es nicht immer möglich, weshalb diese Liebe zu großen Teilen geheuchelt wird, was sich darin beweist, dass es sehr schnell aus sein kann mit der Liebe. Bricht man in das Gehege von Wertmustern und persönlicher Weltbetrachtung eines Erdenbürgers ein, vergisst er das Gebot der Nächstenliebe umgehend. Erst der therapierte Mensch, der die Mysterien durchwandert hat, d.h. der um seine Schatten Bereicherte, lernt ein wenig zu begreifen, was wahrhaft lieben heißen könnte. Die Steigerung zeigt sich bei dem Initiierten, der ohne Anstrengung von selbst den Bruder liebt, sofern dieser sich auf die geistige Bruderschaft zu beschränken vermag und nicht die Ebenen vermischt. Die Liebe Christi bezieht sich auf die oben beschriebene Lehre des platonischen Urbildes. Wenn das Universal die Partikel liebt, breitet sich diese Liebe auch unter den Teilen aus, so verkündet es das Gesetz Platons.
Im Wunder zu Kana ärgert der Meister Jesus die Leiter der damaligen Geheimorden, indem er anlässlich der Hochzeit zu Kana öffentlich Wasser in Wein verwandelt. Diese Transmutation war jedoch ein überliefertes heidnisches Kultgeheimnis, denn es gehörte in die griechischen Dionysien. Von großer Wichtigkeit ist die Beauftragung durch Maria, der Mutter Jesu, die den einfachen Hinweis gibt: Tut was er euch sagt. Jesus sagt: Füllet die Wasserkrüge mit Wasser! Er kürzt dann den Vergeistigungsprozess ab, worauf Wein entsteht. Als Ganzheitsprinzip verfügt er über die Kraft, die verkörperte Menschenseele in den Allgeist zu erheben, was sich einige Ebenen tiefer als alchemistische Transformation von Wasser zu Wein offenbart.
Gabriele Quinque
Literaturempfehlung:
Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium
Arthur Schult: Das Johannesevangelium als Offenbarung des kosmischen Christus
Franz Hartmann: Jehoshua, der Prophet von Nazareth
Gabriele Quinque: Tempelschlaf, Grundlagen der Trance-Arbeit (Lazarus-Mythos)