Uranus
Das Wunderliche und Unberechenbare
Das eruptive Hervorbrechen einer neuen Idee oder Lebenssituation wird in der Astrosophie als das Urprinzip Uranus umschrieben. Viele kennen ihn aus der Pflichtlektüre des Gymnasiums, den lebenslangen Getreuen des abenteuerlichen Simplicius aus dem »Simplicissimus« von Grimmelshausen. Sein Name lautet »Baldanders«. Baldanders formt das Leben seines Schützlings, auf dass es »bald groß, bald klein, bald reich, bald arm, bald hoch, bald traurig, bald bös, bald gut und in Summa bald so bald anders« ist. In Baldanders drückt sich die Umpolungslust von Uranus besser aus, als es in den meisten Astrologiebüchern der Fall ist. Grimmelshausen muss an die höchste göttliche Kraft der altgriechischen Mythen gedacht haben, als er Baldanders in die Wesensnatur seines Simplicius Simplicissimus einfließen ließ. Denn er leitet den Ursprung von Baldanders »aus dem Paradies« ab und macht ihn zum Begleiter der gesamten Menschheit, deren Weg aus der unbewussten Einheit in den Lehrplan der Vielheit beschrieben wird.
Uranus als heilige Satire
Mit solchen Worten wie »also wurde ich beizeiten gewahr, dass nichts Beständigeres in der Welt ist als die Unbeständigkeit selbsten«, profiliert sich Grimmelshausen als ein Kenner echter Esoterik. Er hat sein tiefsinnig okkult-religiöses Buch in Form einer beißenden Satire verfasst, um im Jahr 1668 dem Fallbeil der Inquisition zu entgehen. Die Form täuscht nicht über den Inhalt hinweg, wenn ein Flämmchen hintergründigen Verstehens bereits im Leser brennt. Grimmelshausen wollte genauso wie Wolfram von Eschenbach das esoterische Kulturgut retten und stellte der in schwelgerischer Süßigkeit versunkenen Christenheit einen Stoff gegenüber, der narrenhaft die Wahrheit ausposaunte, ohne vor Klerusanklagen Angst haben zu müssen. Denn was an altgriechischer Mythologie die Echtheit eines Einweihungsweges aufzeigt, geht in dem Gelächter über die äußere Formulierung eines Possenreißers unter. Simplicius, der unbewusste Mensch, bricht auf, ein bewusster Mensch zu werden. Und zwischen viel Humor steckt eine »heilige Schrift«, unerkannt für die Ahnungslosen, aber süffisant deutlich für die etwas Aufgeweckteren. Uranischer als mit Hilfe einer Satire kann man sich dem Auftrag nicht widmen, die Welt vor dem Erstickungstod der Dummheit zu retten. Um die Konsequenz der Dualität in die Köpfe suchender Menschen zu hämmern, hat er auf allen Ebenen des Werkes die Zerrissenheit in einer Weise übertrieben, dass sie die stumpfe Borniertheit eines in Einpoligkeit Festsitzenden aufreißen muss. Grimmelshausen erfand eine ziemlich dreiste Art, die menschliche Natur in ihrer Alltäglichkeit darzustellen. Aus der Sicht des Verfassers ist der gemeine Homo Sapiens wahrlich das Gegenteil von Eindeutigkeit, denn er setzt sich aus Folgendem zusammen: Der Oberköper ist halb weiblich, halb männlich. Bockshörner und Eselsohren schmücken den Kopf, ein Bein ist ein Kuhfuß, das andere stammt von einem Schwimmvogel. Hinten gibt es die Flügel eines Federviehs, aber das Ganze endet schließlich doch in einem Delphinschweif. In der Hand trägt er ein Buch der Welt, das mit den Symbolen von Krone, Pfaffenhut und Narrenkappe die Einheit in eine Trinität spaltet (welche Religion macht das nicht?). Um ihn herum liegen Masken mit vielen Gesichtern, eben »bald so bald anders«.
Uranus als heiliger Narr
Wem das Menschsein in einem solchen Bild aufgeht, der könnte mit einem Auge weinen und mit dem anderen lachen. Und wenn er dies wirklich gleichzeitig kann, dann kauft er sich eine Schelle und verpackt die Wahrheit in obskure Scherze, um sie auch noch in den unbequemsten Situationen unterjubeln zu können, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dann wird er zwar niemals wirklich geliebt, aber immerhin ist er frei. Wirklich frei ist nur der Narr. Der ist nämlich »bald so bald anders« und deckt damit das Gut-Böse-Spektrum, das sich als Konflikt bis in die höchsten kosmischen Sphären fortsetzt, vollends ab.
Uranus als Multitasking Kommunikation
Wenn Grimmelshausen seine Satire im Wassermannzeitalter – also heutzutage – schreiben wollte, dann würde er den Begriff Multitasking aus der Computerprogrammierung verwenden, um die Lächerlichkeit des normalen Menschen zu skizzieren: Mit Mutter telefonieren, parallel dazu fernsehen, grüne Punkte in WhatsApp checken, einen Druckauftrag im Computer geben, in den Hamburger beißen und Rappmusik auf Prime herunterladen – dieses Szenarium hat mit dem komischen Kerl im Delphinschweiflook durchaus Ähnlichkeit. Im Multitasking macht ein Mensch zeitnah vieles und damit nichts richtig gut. Zerrissenheit ist aber nur die niedrigste Schwingung des närrischen Uranusprinzips. Nicht ganz zufällig sind die Worte komisch und kosmisch nur durch einen Zischlaut unterscheidbar, was oftmals zu witzigen Situationen führt. Alles, was kosmisch sein soll, wird auch schnell einmal komisch. Was sich im Multitasking auslebt, ist in Wahrheit die Sehnsucht nach dem Sprung aus Raum und Zeit hinaus. Vieles auf einmal fertig bringen zu wollen, entspricht in der konsequenten Verlängerung, Gott sein zu wollen, denn der höchste Vater im Himmel (Uranus) ist die Gleichzeitigkeit, die himmlische Ewigkeit selbst, die aber dann von der Schöpfung nur noch nacheinander wahrgenommen werden kann.
Uranus als Bewusstsein
Der Mensch sollte begreifen, dass er in der Form nie Gott sein wird, es aber im Geist eigentlich immer geblieben ist. In der Welt kann der Mensch nicht allen dienen, er muss sich entscheiden, seine Kraft bündeln und lenken. Der Volksmund hat Recht, wenn er sagt: Niemand kann auf zwei Hochzeiten tanzen! Aber im Bewusstsein (im Geist) muss der Mensch lernen, auf allen Hochzeiten zu tanzen, was soviel heißt, wie »sich mit allem was ist« identifizieren zu können. Hier liegt das okkulte Geheimnis des Uranus: Das Sowohl-als-auch ist ein reiner Bewusstseinsschritt, der für das weltliche Handeln zwar eine Toleranz zur Verfügung stellt, die jedoch jenseits einer simplen Kunterbuntheit zu bleiben hat.
Uranus als Genius
Astrologisch formuliert, liegt dem »Baldanders« von Grimmelshausen das Prinzip von Uranus zugrunde, denn Uranus ist die Umpolung und die Entsubjektivierung – ein Wechseln des Standpunktes, ein Vertauschen der Pole, ein Verstellen der Lichter oder ein mehrfaches Verknoten des Yin und Yang Emblems. So und immer wieder ähnlich wird Uranus von verschiedenen Denksystemen umschrieben. Uranus ist das eruptive Hervorbrechen einer neuen Idee. Uranus selbst ist nicht destruktiv, er weiß nur mehr als alle anderen. Wer freilich einen geraden Weg verfolgt und von Uranus daran gehindert wird, weil der Weg über eine Talbrücke führt, die vor den Augen des Wanderers gesprengt wird, erlebt Uranus extrem negativ. Was wäre aber, wenn Uranus die Talbrücke vernichtet hätte, weil auf der anderen Seite die Pest wütet und der Wanderer nur aufgrund seiner Kursänderung davon verschont bleibt? Dies zeigt, wie wenig der Mensch von einer starken Kraft versteht, die mit elektrischer Geschwindigkeit von oben eingreift, um den Wichtelmann, der sich zu früh für einen Menschen hält, zu leiten und zu lenken. Der Befreier ist Erwecker, Erleuchter und Erfinder. Ohne Uranus sind Forscher nicht mit dem roten Telefon der höchsten Stelle verbunden, und sie entbehren des Gedankensprungs, der zwar unvorhersehbar aber genial ist.
Uranus als Urvater
Blickt man in die griechische Mythologie, dann muss man das analoge Köpfchen schon ein wenig anstrengen, um die Sinnhaftigkeit des Uranus in der Beschreibung des gleichnamigen Gottesbildes zu entdecken. Uranus gilt als Vater des Titanengeschlechts, zu dem auch Kronos, die Zeit, gehört. Uranus hat keinen Gott mehr über sich, er ist also ein Gott des Absoluten. Einerseits wünscht er sich, Einheitsgott zu bleiben, doch befruchten will er auch. Die Kinder wiederum, die sich daraus ergeben, mag er dann nicht, weil sie ihn um seinen Omnipotenzanspruch bringen. Was ist los mit Uranus, ist er verrückt? So verrückt, wie seine Schöpfungsgeister, die aus der göttlichen Mitte herausgerückt sind.
Uranus als Erkenntnis
Weil Uranus zeugt, gibt es Kronos. Weil es Kronos gibt, verliert Uranus die Zeugungskraft. Paradox? Janein. Uranus! Uranus zeugt und will die duale Form verhindern, denn er sperrt seine Kinder in Gajas Bauch ein. Darum wird er von Kronos entmannt. Seiner Zeugungskraft beraubt, ist Uranus jetzt nicht mehr eindeutig männlich, und damit verliert er seine eigene göttliche Übermacht an den Sohn. Was einst Einheit war, zergliedert sich jetzt weiter in das Stückwerk des Weltenbaus. Und der Mensch scheint verdammt zu sein in dem Baldanders-Druck. Und so ist es auch, so lange zumindest, bis der Narr in das Bewusstsein des Menschen vordringen kann. Erst wenn hinter der bunt gescheckten Narrenkappe die Erkenntnis gefunden wird, dass alles was Welt ist, verrückt ist, wird man vielleicht merken, dass es der Narr als Einziger schon bald nicht mehr ist, denn er fand die Wahrheit und schlägt ein Rad, macht einen Flick Flack, schwingt sich vom Trapez, sieht aus, als würde er in die Tiefe stürzen und wird doch im letzten Augenblick von der Feder an seinem Hut aufgefangen. Endlich ist er ruhig, der Narr, denkt man, aber er schnippt mit den Fingern und steigt in einen Fesselballon, der eben noch gar nicht da war, und fliegt damit hinauf. Nimmer wird man ihn wiedersehen, denkt man, aber dann zieht einer an den Haaren, man dreht sich um und – wie ist es nur möglich – blickt in die Augen des Narren, der im selben Moment eine Pirouette dreht und entfleucht. Nicht zu greifen ist er.
Aber was will der Narr zeigen? Gibt es eine Lehre des Narren? Vielleicht lehrt Uranus, dass der Mensch erst die Schuld der Unbeständigkeit in sich selbst erblicken muss. Und wenn er den Baldso und Baldanders in sich gefunden hat, weiß er, dass Ruhe, Frieden und Einheit erst hinter der Zeit gefunden werden können, dort im raumlosen Raum, wo Uranus noch nicht kastriert ist, aber auch noch nicht zeugt. Wann ist das? Oder wo? Über diese Frage würde der Narr sich ausschütten vor Lachen! Denn der Narr ist gewiss ganz hier, weil er nicht hier ist, fröhlich, weil er traurig ist und traurig, weil er fröhlich ist. Der Narr ist Uranus, der – verbannt und entmannt – den Weg zurück zeigt, aber dieser führt statt durch eine aufgeräumte Welt durch einen Feuerreifen im Zirkus. Und wer hier mittenhindurch springt und jenen Punkt trifft, der in Wahrheit ein Blutstropfen von Uranus ist, kann wie Parzival die Zeit überwunden haben, und dann ist auch ein Simplicissimus kein Simpel mehr, sondern höchste Freiheit, Frieden und Liebe jenseits der Form.
Gabriele Quinque, 1991