Fürst Gurnemanz, der weltliche Lehrer
Nachdem Parzival in der festen Überzeugung lebt, mit dem Besitz der roten Rüstung bereits alles erreicht zu haben, was zum Leben eines Ritters gehört, verliert er überraschend schnell das Interesse an dem Königshof des Artus. Er reitet davon und lässt das Pferd die ganze Zeit galoppieren, gerade so wie einer, der aus seinem Inneren getrieben wird, der Erdenmutter davonzurennen. Diese Eile kennzeichnet seinen vorbestimmten Weg. Die meisten anderen Jünglinge hätten Lust verspürt, sich kopfüber in das höfische Artusleben zu stürzen, dabeizusein, wenn Ritterspiele unter dem minniglichen Lächeln der Burgfrauen des Nächtens in weiche Betten führen, wo sich dann die eben noch so stolze Ritterlichkeit in dem Flechtwerk zarten Weiberhaares verfängt. Parzivals innere Wesentlichkeit versagt ihm, an einer reich gedeckten Vergnügungstafel in sinnentleerten Genüssen zu versinken – und sei es an der Seite eines Königs. Keine Brotkrume, weder Wasser noch Wein, ketten ihn an eine Untertanschaft in dem äußeren Königreich simplen Wohllebens. Und so kommt es, dass er schon nach einem Tagesritt zu der nächsten bedeutsamen Station seines Lebens gelangt. Die Fügung legt ihn in die gütigen Hände eines adligen Erziehers, der dem rauen Stein eine ansehnliche Grundform verleihen wird.
Von der Linde zum Gottesdienst
Parzival erblickt zuerst die Türme einer Burg, die während seines Näherkommens phallisch aus dem Boden wachsen. Seine Mannwerdung soll dort ihren Lauf nehmen, weshalb er den Männlichkeitsbildern gleich zu Beginn mehrfach hintereinander begegnet. Sobald er die Burg als Ganzes erkennt, befindet er sich auch schon auf einer Wiese, in deren Mitte eine prachtvolle Linde steht. Noch ist es nicht der Lebensbaum, vor dem er steht, dafür aber das Sinnbild von verlässlicher Kameradschaft und beständiger Gemeinschaft. Denn die Blätter der Linde sind herzförmig, der Stamm kraftvoll, die Äste weitverzweigt und die Blüten heilsam. Im flimmernden Schattengrün der Lindenkrone sitzt Fürst Gurnemanz von Graharz, edel gekleidet, einen zahmen Sperber auf der Hand. Nur an seinem grauen Haar zeigt sich, dass er das beste Mannesalter schon zu überschreiten begonnen hat, aber Wuchs und Gestalt strotzen vor Kraft. Getragen von Edelmut und Würde begrüßt Gurnemanz den Reiter. Dieser erwidert den Gruß wie ein Kind; weder sitzt er manierlich ab, noch wahrt er mit Worten die Form. Stattdessen erzählt er sofort, seine Mutter habe ihm nahegelegt, er solle den Rat eines Mannes mit grauen Locken annehmen.
Der Fürst bietet ihm schmunzelnd das Gastrecht an, lässt den Sperber von der Hand schweben. Dieser fliegt sogleich als Bote hinauf zur Burg und klingelt mit einem Glöckchen die Knappen des Fürsten herbei. Parzival staunt noch über das prompte Erscheinen der gut gekleideten Junker, aber ehe er es sich versieht, gerät er auf den Burghof, wo sich ihm ein tugendhaft geordnetes Ritterleben eröffnen soll.
Auf dem Burghof bedürfen die Knappen vieler Überredungskünste, um Parzival endlich dazu zu bewegen, von seinem Ross abzusitzen und ihn in eine Kemenate zu bringen. Dort lässt er sich einigermaßen willig aus der Rüstung heraus helfen, aber das Staunen ob der Besonderheit des Jünglings bricht wieder unverblümt hervor, als die groben Bauernstiefel und das sackleinerne, lumpige Narrenkleid zutage kommen und es den Knappen nicht gelingt, den an sich sehr schönen Knaben aus dem unmöglichen Kleid Herzeloydes auszupacken. Gurnemanz wird darüber in Kenntnis gesetzt. Jedoch der Burgherr führt den Gast zunächst einmal in diesen merkwürdigen Kleidern zum Essen und ergötzt sich an dem Heißhunger Parzivals. Kaum gesättigt, wird Parzival auch schon von Müdigkeit ergriffen und Gurnemanz selbst geleitet ihn zu seinem Nachtlager. Unter dem Einfluss des Gastgebers entledigt sich Parzival hier nun endlich der närrischen Gewänder und legt sich nackt unter eine kostbare Hermelinpelzdecke zu einem langen, erholsamen Schlaf nieder.
Mit dem Narrengewand streift Parzival die Abhängigkeit von der Mutter ab. Es gleicht dem Hervorwinden aus einer überlebten Hülle. Dies führt ihn in mehr Eigenständigkeit und ein größeres Selbstwertgefühl. Der Schritt wird notwendig, denn durch das Töten des Roten Ithers hat er ohnehin seine Unschuld verloren. Der nächste Morgen beginnt mit einem Bad, das schöne Jungfrauen ihm bereiten. Im Badewasser liegen duftende Rosenblätter und in diesem Weltenwasser wird Parzival für die Unterweisung durch Gurnemanz vorbereitet. Den Duft der Rosen am Leibe, bekleidet er sich mit kostbaren Gewändern, die man ihm bereitgelegt hat. Ein weißes Hemd, scharlachrote Hosen, Rock und Mantel, alles mit Hermelin gefüttert und mit Zobel besetzt, entfalten die angeborene Schönheit Parzivals in nie gekannter Weise. Frohgemut schließt er Gürtel und Spangen, verlässt die Kemenate und trifft bald auf den Burgherrn, der ihn mitnimmt in die Kapelle, wo ihnen die Morgenmesse gelesen wird. Bereits hier beginnen die Belehrungen, und Parzivals Frömmelei, die er von der Mutter gelernt hat, erfährt eine Unterweisung in den praktizierten Ritus. Gurnemanz legt Wert auf die konkrete Teilnahme am Messopfer und verdeutlicht, wie sehr eine rituelle Arbeit im Schoß der Kirche dem Abwenden vom Teufel gleichkommt. Es reicht eben nicht, Gott unter freiem Himmel zu preisen und seien Existenz in Allem wahrzunehmen. Parzival wird unter den Fittichen des Burgherrn zu einem edlen Ritter geformt werden, darum soll er hier in der Morgenmesse erkennen, dass ein Minimum an Geist zwar in jeder Blume, in jedem Baum, Tier, Mensch und sogar Stein enthalten sein mag, der Segen des Heiligen Geistes jedoch allein aus der Liturgie hervorströmt, demzufolge eine wahre Abstimmung mit Gott allein über die Zelebration des Geweihten führen.
Dies ist eine großartige Erkenntnis, die Wolfram von Eschenbach hier einfließen lässt. Denn die initiatische Strömung, wie sie sich in den Katharern, Templern und Rosenkreuzern manifestiert, verbirgt sich bisweilen hinter einer so genannten »Naturreligion«. Darin liegt allerdings ursprünglich nur ein heimlicher Kunstgriff, der es ermöglicht, den massivsten Angriffen seitens der Petruskirche zu entkommen. Das Problem daraus erwächst freilich überall dort, wo man diesen Hintergrund außer Acht lässt und »Naturreligion« insofern ernst nimmt, indem man glaubt, das Umarmen eines Baumes, das Füttern eines Vogels oder Beobachten des Wildes im Wald habe etwas mit Religion zu tun bzw. genüge schon als Gottesdienst. Dem ist ganz und gar nicht so. Ein Hochsitz aus Holz und Blättern stellt keinen Ersatz für ein Hochamt von Gold und Myrrhe dar. Auch die johanneischen Strömungen verfügen über ihre Rituale, die dem »Wandlungs«-Anspruch katholischer Messen absolut gerecht werden, je in ihrer einweihenden Wirksamkeit sogar noch weit darüber hinaus führen, solange der hochmagische Aspekt darin in den Ausführenden lebendig bleibt.
Aber leider kehrt allzu oft die Idee einer rein symbolischen Handlung ein, der »Weg des Herzens« reduziert sich auf ein vordergründiges Liebsein, wodurch dann diese Dinge gewissermaßen protestantisch, sprich: ungeweiht, weihrauch- und opferlos werden. Sogar Mystische Rituale regredieren über solchen Unverstand zu folkloristischen Gedenkfeiern, sie erweisen sich am Ende als vollkommen ungefährlich für das Ich im Menschen – woraufhin der Belzebub sich scheckig lacht, seine haarigen Klauen auf die sterbende Magie legt und ihr den letzten Rest gibt. Um die Heiligkeit eines Hochmagischen Rituals nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, führt Gurnemanz seinen Schützling nicht zur Morgenandacht unter die grüne Linde, sondern in das zelebrierte Wort Gottes unter dem heiligen Gewand der Kapelle (wörtl.: kleiner Mantel), um dem Teufel gleich zu Beginn eines neuen Tages den Rücken zu kehren und in der magisch vollzogenen Gegenwart Christi alle folgenden Handlungen im Himmel anzubinden. Damit lässt Parzival nach dem Pferd, dem Narrengewand und den Bauernstiefeln nun auch noch in seinem religiösen Weltbild den Wald Soltane hinter sich und fängt an, mit Hilfe eines weltlichen Lehrers erwachsen zu werden.
Ritterliche Tugenden
Nach der heiligen Unterweisung folgt ein fürstliches Frühstück, während dessen fragt Gurnemanz nach der Herkunft Parzivals und erfährt, was dieser seit dem Fortgang aus der Geborgenheit erlebte. Der Edelmann schmunzelt sicherlich bei dem Raub von Kuss und Spange, aber an dem unfairen Anschlag auf das Lebens des Roten Ritters nimmt er mit einem trauernden Seufzer Anteil. In Anbetracht der Unreife Parzivals beginnt der Fürst unverzüglich mit seinen Unterweisungen, und Herzeloydes Spross erfährt darin, was ihm in der rein mütterlichen Erziehung fehlte: das Vaterhafte. Darin liegt auch schon der Boden höherer Geistigkeit, denn der richtig gelebte Archetyp des Alters lehrt das Anwenden der Kraft in der Welt, wirkt also insgesamt erhebend. Gepaart mit Güte und Barmherzigkeit erwachsen daraus individualisierte Eigenschaften wie Mut, Wille, Leistungsbereitschaft und Selbstbewusstsein; diese stellen die Basis für einen wahren geistigen Weg dar.
Wohingegen der Archetyp des Mütterlichen eher niederdrückt und versucht, die Psyche in der sich unterordnenden Anonymität festzumachen und die Persönlichkeit eher klein und gehorsam zu halten. Das Mutterhafte legt Wert darauf, die äußere Welt per Gebot in Ordnung zu bringen, das Vaterhafte jedoch fordert auf, selbst in Ordnung zu kommen und sich aus sich selbst heraus auf höchste Ideale auszurichten. Letzteres führt durch die Umgestaltung Innenraumes und stellt somit den effektiveren Weg dar, weil sich das Außen stets nach dem inneren Prinzip eines Menschen gestaltet. Von der Vaterperson erfährt Parzival, dass die Meisterung des Lebens in dem eigenen höheren Wachstum begründet liegt und niemals ohne inneres Aufwachen geschehen kann. Parzival redet anfänglich ständig von seiner Mutter, »das hat mir meine Mutter gegeben«, »meine Mutter wird zu dieser Zeit noch nicht aufgestanden sein«, »meine Mutter riet mir ...« usw.; darum lauten die ersten Worte der väterlichen Gurnemanz-Lehre: »Ihr plappert wie ein unmündiges Kind. Warum lasst Ihr nicht endlich Eure Mutter aus dem Spiel und sprecht von anderen Dingen?« Parzival nimmt es sich zu Herzen, verschließt von nun an die Mutter in seiner Brust und teilt sich nicht mehr jedem unkontrolliert mit. Gurnemanz bringt ihm alle Regeln bei, die ein Mann braucht, um sich in der Welt behaupten zu können.
An erster Stelle ritterlicher Tugend stehen Demut, Milde und Wohltätigkeit und Gurnemanz nennt diese »rechte Herrenart«. Eine ebenso große Selbstverständlichkeit sollte die Ehrlichkeit sein. Lügen und Heuchelei stehen einem Richter schlecht zu Gesicht. Und ergibt sich jemand im Kampf, so gebietet es die Anständigkeit, ihn leben zu lassen. Die fünf Sinne weise zu gebrauchen, so lautet der väterliche Rat des Fürsten. Zudem gebietet es der Anstand, das Herz einer Frau nicht zu verraten und in Liebesdingen genauso aufrichtig zu sein wie im Kampf.
All diese Dinge gehören in die irdische Moral und erleichtern das Zusammenleben der Menschen. Parzival erhält den Rat von Gurnemanz, keine überflüssigen Fragen zu stellen, und gerade dieser Rat lässt ihn später auf der Gralsburg scheitern, weil er Amfortas nicht nach dessen Leiden fragt. Daraus soll er lernen: Irdische Verhaltensvorschriften sind gut, haben aber ihre Grenzen. Sie gelten für die ersten beiden Quadranten des Tierkreises, verlieren jedoch für den Eingeweihten bisweilen an Gültigkeit.
Parzival erhält noch die praktischen Übungen wahrer Ritterlichkeit. Er lernt, mit den Pferden richtig umzugehen, Lanze und Schild einzusetzen und ein Meister des Zweikampfes zu werden. Der junge Recke erfasst alles sehr schnell und entfaltet sich bestens. Allzu gerne würde Gurnemanz ihn mit seiner schönen Tochter Liasse vermählen und ihn auf diese Weise als Sohn gewinnen. Aber Parzival spürt intuitiv, dass dieses Dableiben für ihn Stagnation bedeuten würde. Die häuslichen Annehmlichkeiten würden seine Gralsfindung ausschließen, darum bleibt er nur vierzehn Tage bei Gurnemanz und zieht unter den Tränen Liasses und dem schweren Herzen des Burgherrn von dannen. Jene vierzehn Tage stehen symbolisch für eine Erfahrung, die sich an den halben Mondzyklus anlehnt. Auch in der kirchlichen Welt gibt es häufig vierzehn Stufen, sind dies doch 2x7 Urprinzipien, die erfüllt werden.
In diesem Sinn ist Parzival nach vierzehntägiger Selbsterfahrung bestens gerüstet, ritterlich und tugendhaft den weiteren Anforderungen des Weges gewachsen zu sein. Bei Gurnemanz schloss er das Tierkreiszeichen Zwillinge ab und ist bereit, in das Gefühlsleben des Krebses einzutauchen.