Gnadengefäß auf grüner Seide

der-gral


Gemäß einer uralten Überlieferung darf sich niemand aus eigenem Ermessen auferlegen, das große Werk der endgültigen Vereinigung von Himmel und Erde bzw. Gott und Shekinah vollbringen zu wollen. Denn Gott selbst wird am Ende der Zeiten ein Individuum für diesen Dienst bestimmen. Es heißt, es sei wichtig, dass es ein Mensch sein müsse, der noch nicht einmal im Ansatz eine Ahnung von seiner Mission haben dürfte, damit er unbefangen durch alle erforderlichen Prüfungen gehen könne. In der Gralslegende verwebt sich diese Idee mit der Figur Parzivals. Anfänglich will er nur Ritter werden, kaum ist er es, erlebt er sich auch schon als König. Für viele wäre damit das Liebensziel erreicht, aber in Parzivals Wesen liegt »der Gral« bereits verborgen, und es bedarf nur eines Fingerzeiges Gottes, um auch außen fündig zu werden. In Parzival lebt etwas Außergewöhnliches, das sich in seiner Gestalt und Ausstrahlung offenbart. Denn wieder und wieder – die ganze Dichtung hindurch – betont Wolfram von Eschenbach die Schönheit Parzivals; er spricht von zarter, glatter Haut, leuchtenden Augen, einem brennendroten Mund und einem knabenhaften Kinn, bar jeglicher Barthaare. Die Kämpfe an den Toren der Grobstofflichkeit vermögen ihm offensichtlich weder Schönheit noch Jugend zu rauben. Schon darin erweist sich die Besonderheit Parzivals, und es könnte damit zusammenhängen, dass sein höchster Seelenanteil in den Stunden des Schlafs bis in die göttlichen Seinsebenen aufsteigt und bei der Rückkehr jedes Mal so viel Himmel herabbringt, wie nötig ist, um vollends zu regenerieren und dadurch jung und schön zu bleiben Es heißt ja:


Keiner erblickt den Gral,
Wenn er ihn nicht zuvor
Im Himmel gesehen hat.


Demzufolge muss die Seele Parzivals durch eine initiatische Tradition himmelwärts rückgebunden sein; indessen weiß seine profane Ichnatur davon nichts, ist diese doch ganz und gar »Erdenmensch«, mit allen damit einhergehenden Fehlern. Genau darin liegt freilich die Botschaft esoterischer Gralslehre. Nur ein vollständig im Stoff Verwickelter, dessen irdische Existenz von Zweifel und Verzweiflung unterwandert wird, der immer wieder in der Form scheitert und dennoch seinen geistigen Inhalten treu bleibt, eignet sich für die Berufung zur Kollektivheiligung durch den Gral. Nur ein solcher Typus entwickelt jene notwendige Stärke, die ein Werk dieser Größe erfordert. Jene Antriebe der eingeweihten Seele, denen der Durchbruch in das Physische gelingt, offenbaren sich in der eigentümlichen Getriebenheit, der Parzival von Anfang an ausgeliefert ist; sie zeigen sich auch in der Ungewöhnlichkeit, bereits zur Zeit der Egoentwicklung – gleichsam im Tierkreiszeichen Löwe – auf die Gralsburg zu gelangen, die allein im transzendenten vierten Quadranten des Tierkreises zu finden ist. Obwohl Parzival mit der okkulten Heiligkeit des Gralsrituals in seiner eigenen Zeitqualität noch nichts anfangen kann, wird es dennoch eben dieses Ritual sein, das ihn wie ein unsichtbarer Hirtenstab auf dem Weg in die Vergeistigung führt.

Pracht und Segen des Rituals

Eschenbach vermeidet stets solche Worte wie Tempel, Orden, Heiligtum, Priester oder Priesterin, er bleibt konstant bei Benennungen wie Burg, Schloss, Palast, König und Königin. Damit will er wohl erreichen, von Seiten des Klerus nicht in die Nähe von Geheimbünden seiner Zeit (wie z.B. der Katharer und der Templer) gerückt zu werden. Aus dem selben Grund wird das Gralsritual beschrieben, als sei es eine höfische Zeremonie. Also heißt es zu Beginn, Parzival werde in den Palast geführt. Ein Palast gilt als Hauptgebäude einer Burg; wir haben es demnach gleichermaßen mit dem Kernstück der Gralsburg und dem geheimen Mittelpunkt der Dichtung zu tun. Parzival weiß es noch nicht, aber ähnlich wie Eisenspäne sich einer unsichtbaren Ordnung folgend um den Magneten gruppieren, so beginnt sich sein Leben von jenem denkwürdigen Augenblick an, als er zum ersten Mal den Palast betritt, nach einer geistig-erhabenen Kraft auszurichten. Staunend erblickt er eine nie zuvor geschaute Pracht und Herrlichkeit. Hundert Kronleuchter und Wandhalter, jeweils bestückt mit vielen brennenden Kerzen, erleuchten und verzaubern einen riesigen kostbar ausgestatteten Saal. Parzival fügt sich gut in das Gesamtbild ein, trägt er doch den geliehenen Purpurmantel der Gralskönigin, der ein Symbol keuscher Gegensatzvereinigung des weiblichen und männlichen Prinzips darstellt.

Vierhundert Ritter sieht er, je vier auf hundert Polstern ruhend. Auch drei viereckige Marmorkamine, in denen Aloeholz in hohen Flammen steht, beeindrucken den Gast auf Montsalvat. Hier muss man bedenken, wie sehr Kaminfeuer zum Luxus einer Burg gehört, und es gibt gleich drei Feuerstellen, in denen auch noch das kostbarste Holz der Welt verbrennt. Dem afrikanischen Liliengewächs Aloe wird Heilkraft zugesprochen. Wen wundert es, dass der kranke Burgherr Amfortas in der Nähe des mittleren Kamins platziert ist. Doch die irdenen Flammen reichen nicht aus, das erloschene Feuer der Gesundheit in ihm neu zu entfachen, darum ist er zudem noch in warme Kleidung mit Zobelpelzen gehüllt. Statt der Krone, die ein König tragen müsste, steckt das Haupt des Gralskönigs unter einer Pelzmütze. Sein Bewusstsein ist erkaltet, nicht mehr be-»geistert«, nicht mehr offen genug für das rituelle Amt. Nur eine goldgewirkte arabische Borte mit einem Rubin auf Stirnhöhe erinnert an die verlorene Sternenweisheit des Morgenlandes und das geöffnete dritte Auge eines Weisen. Trotz elender Schmerzen begrüßt der Burgherr den jungen Gast voller Freundlichkeit und bittet ihn, sich auf einem Platz in seiner Nähe niederzulassen.

Mitten in all der Herrlichkeit des Saales wirft das Leid des Fischerkönigs dunkle Schatten, und das »Fest« erfährt einen seltsamen Beginn. Es öffnet sich eine Tür, und herein kommt ein Knappe mit einer Lanze, aus deren Spitze Blut quillt und den Schaft herunterläuft. Der Knappe umschreitet damit einmal den ganzen Saal, um dann wieder durch die gleiche Tür hinauszugehen, und es heißt, die anwesenden Ritter begleiten die Lanzenprozession mit heftigem Weinen und Wehklagen, gerade so, als habe sie die blutende Lanze an ein schreckliches Unheil erinnert. Man bedenke, es sind vierhundert Ritter; vier Elemente, die auf der Erlösung der Materie warten, jedoch zunächst an ihre Situation gebunden bzw. im Buchstaben Tav (=400) gekreuzigt sind. Parzival ist der Einzige in diesem Saal, der die wesentlichen Zusammenhänge nicht erfasst. Die okkulten Schlüssel sind ihm fremd und er weiß nicht, dass die blutende Lanze jene des Heiden verkörpert, die die Wunde des Amfortas schlug. Er wird erst später erfahren, wie sehr diese Lanze jener des Longinus gleicht. Im Augenblick ist Parzival ein Gast, der zum ersten Mal einer heiligen Zeremonie beiwohnt, ohne eingeweiht zu sein, weswegen er nur die äußeren Handlungen erfasst, aber tief berührt wird in seiner Seele.

Kaum ist die Lanze verschwunden, verstummen auch die Klagerufe der Ritter. Der Saal wird nun von insgesamt vierundzwanzig in verschiedenfarbige Seide gekleidet und um die schlanken Hüften kostbar gegürtete Edel- und Jungfrauen erfüllt. Zuerst erscheinen zwei mit goldenen Leuchtern, danach zwei mit Elfenbeinstützen, die vor dem Burgherrn aufgestellt werden; darauf folgen noch acht Jungfrauen in grasgrünen Gewändern und bringen vier große Kerzen und eine halbtransparente Tischplatte aus geschliffenem Granathyazinth herein. Zusammen mit den Elfenbeinstützen wird daraus ein herrlicher Tisch vor dem Lager des Amfortas aufgebaut.

Natürlich erblickt Parzival in den ersten zwölf Frauen nicht die zwölf Mägde der Sophia oder wenigstens das Symbol des Tierkreises, da ihm als christlich Erzogener gnostisches Gedankengut fremd blieb. Noch zweimal sechs Jungfrauen erscheinen. Zwei von ihnen tragen zwei haarscharfe Silbermesser herein, die auf den Tisch vor Amfortas gelegt werden. Sechs tragen durchsichtige Glasgefäße, in denen duftender Balsam brennt.

Eingehüllt in diese Duftwolken schreitet nun die Königin herein, ihr Name lautet Repanse de Schoye, das bedeutet Freudenbringerin. Sie ist in Purpurseide gekleidet und trägt den Gral auf grüner Seide durch den Palast, während je zwölf Frauen zur Rechten und zur Linken sich vor ihr verneigen, um sie dann bei ihrer Wanderung zu begleiten. Parzival blickt verträumt auf die Gralsträgerin und denkt an den Purpurmantel, den er auf dem Leib trägt, doch kennt er dessen geheime Bedeutung nicht. Er sieht den Gral nicht, auch weiß er nicht, wie sehr dieser Gegenstand den Inbegriff paradiesischer Vollkommenheit ausmacht. Anfang und Ende sind darin beschlossen; es ist ebenso der Stein der Weisen, wie auch der erhabene Mutterschoß geistiger Wiedergeburt.

Die grüne Seide unter dem Gral hat eine große Bedeutung. Grün nimmt eine vorherrschende Stellung in arabischen Ländern ein. Auch heute noch ist Grün die Hauptfarbe des Islam, man sieht dort darin ein Zeichen der Lebendigkeit, der Freude und der Fruchtbarkeit. In heißen Ländern kostet es viel Mühe, das Land durch künstliche Bewässerung ergrünen zu lassen. Aus diesem Grund ist Grün gleichbedeutend mit Pracht, und man verziert die Bemäntelung der Moscheen und Minarette häufig mit dieser Farbe. Mit der Betonung der Farbe Grün im Gralsritual knüpft Eschenbach an persischer Sternenweisheit an und verweist auf jene Schrift, die Kyot »im Staube von Tolledo« fand. Durch die grüne Seide als Basis des Grals kehrt das verloren gegangene Wissen der Heiden in den Kult zurück. Grün ist im Altertum auch oftmals die Farbe des Mondes, demnach ruht der Gral in der Mondnatur der Gralsträgerin.

Repanse de Schoye ist rein wie eine römische Vestalin, darum liegt der Gral zu Recht in ihrer Hand. In ihrem Schoß wandelt sich das Dämonisch-Weibliche in Engelhaftes. In diesem Sinn gleicht sie der geflügelten Sophia oder Isis Urania – sie ist bereit, sich wieder empor zu schwingen.

Jedoch bedarf die weibliche Heiligkeit einer gesunden Männlichkeit, und diese ist durch die Versehrung des Amfortas nicht mehr gegeben. Ein wahrer Priester des Grals muss in allen vier Welten potent sein und die Zeugungskraft einem unaussprechlichen Mysterium zur Verfügung stellen. Amfortas hat leider diese Kraft verloren. Was man nicht besitzt, darauf kann man nicht verzichten, und das Mysterium der Vereinigung von Kelch und Lanze bleibt aus. Der Gral als lunares Prinzip ist noch gesund, das Solare jedoch ist leider durch irdisches Begehren geistlos und krank geworden.

Dieses Unglück erfährt jede Mysterienschule, und oftmals vermag sie sich nicht aus eigener Kraft dagegen zu wehren, und Hilfe der Starken aus den eignen Reihen lehnt sie aus Angst vor Übergriffen stets ab. Wen wundert es also, dass man auf einen neuen Impuls von außen angewiesen ist und nun inständig hofft, Parzival wäre der, den man auf Montsalvat herbeisehnt. Aber Parzival ist zu diesem Zeitpunkt zwar bewandert in den Dingen des ritterlichen Lebens, aber einen echten, selbstbewussten Zugang zu den verborgenen Welten fand er noch nicht.

Während der Anwesenheit des Grals treten Kämmerer mit großen goldenen Becken und weißen Handtüchern herein. Allen werden die Hände gewaschen, heißt es doch, dass die Speise vom Gral nur von reinen Händen empfangen werden kann. Alsbald werden hundert Tische hereingetragen, vor den Ruhelagern der Ritter aufgestellt und mit goldenem Tafelgeschirr bedeckt. Und dann zeigt sich der Gral als Hort des Glücks, als Füllhorn aller Köstlichkeiten, denn jeder der Anwesenden erhält eine Nahrung, die er aus tiefstem Herzen begehrt. Es wird von warmen und kalten Speisen berichtet. Wildbrett, Pfeffer, Saucen – jeder erhält »seine Ergänzung« aus dem Heil des Gralsmysteriums.

Was hier wie ein Tischlein-deck-dich-Märchen anklingt, stellt dennoch eine rituelle Tempelspeisung dar. Es ist ein wahres Brudermahl, das jeden mit dem versorgt, was ihm geistig fehlt. So wie am Karfreitag die Taube herabkommt und den Kelch mit der Hostie speist, wird auch der Mensch von dem Geist der Gralsburg erfüllt. Der an sich magische Aspekt einer kultischen Zusammenkunft kleidet sich in ungefährliche Metaphern ein und erinnert die Seele an die Magie der urchristlichen Agape – an das orgiastische Liebesmahl, wie es bereits in der Antike in den heiligen Hainen durch die Hand der Götter genossen wurde.

Der Gral

​Viele Fragen drängen sich Parzival im Inneren auf, allzu gerne hätte er gewusst, was es mit all der Pracht auf sich habe, was sein Hiersein für ihn selbst wohl bedeuten möchte; er würde am liebsten fragen, an welchem Leiden Amfortas krankt und sicher auch, warum der Gral ihm nicht hilft. Aber er fragt nicht, mit Schrecken denkt er daran, mit seinen Fragen Missfallen erregen zu können, war er doch von Gurnemanz diesbezüglich gerügt worden.

Sogar als ihm die Frage buchstäblich in den Mund gelegt wird, bleibt seine Zunge versiegelt. Der Burgherr überreicht ihm ein besonders edles Schwert mit einem griff aus Rubin mit den Worten: »Herr, ich habe es oft im Kampf getragen, bis Gott mich mit einer schweren Wunde heimsuchte ... «. Hier sollte er endlich nach der Wunde fragen und würde alles erfahren, woher die Wunde rührt, wozu die silbernen Messer da sind, wann die Wunde schmerzt und vieles mehr. Jedoch könnte er die Zusammenhänge nicht wirklich erfassen, er muss sich selbst zuerst noch zu hinterfragen lernen, sich in der Begegnung verwickeln, seinen eigenen Schatten finden, das Bekenntnis ablegen und sich durch Erkenntnis läutern, bevor er wie ein Mystagoge oder Therapeut fragen darf: »Was fehlt Euch, Oheim? « Das bloße Tragen des Purpurmantels genügt nicht, er muss ihn sich durch Arbeit und Verehrung erst noch selbst verdienen.

Am Ende des Mahls bringen die Knappen das Essgeschirr hinaus. Jungfrauen und Edelfrauen verrichten ihre zeremoniellen Verbeugungen und Wanderungen in umgekehrter Reihenfolge. Auf diese Weise wird alles zurückgenommen. Dann schreiten Repanse de Schoye mit ihren vierundzwanzig Frauen aus dem Palast, und noch ehe sich die Tür hinter ihnen vollends schließt, fällt Parzivals Blick auf einen wunderschönen Greis mit nebelweißem Haar, liegend auf einem Ruhelager im anschließenden Gemach. Der Altehrwürdige strahlt eine Erhabenheit aus, wie sie Parzival noch nie zuvor an einem menschlichen Wesen erblickte. Auch diesmal haucht ihn das Geheimnis an, doch er schließt dieses Wissenwollen in seinem Herzen ein.

Der Burgherr rät nun dem Gast, zu Bett zu gehen. Sie wünschen sich noch freundlich eine gute Nacht, und dann führt man Parzival in das Schlafgemach. Pagen eilen ihm zu Diensten, Jungfrauen bieten ihm Schlummertrunk und Obst an, bewundern heimlich seine Schönheit und plaudern fröhlich mit ihm, bis er schließlich allein zurückbleibt und einschläft.

Auch wenn Parzival weder verstand noch nachfragte, um verstehen zu lernen, so hat er am Ende doch den Gral gesehen, hat in seiner Nähe verweilt und wurde mit Purpursegen übergossen. Allein darin liegt schon im Voraus »des größten Heiles Wunder«. In einer Mysterienschule zu versagen ist weniger schlimm, als niemals dort gewesen zu sein.

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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