Troubadoure und Tempelritter

Will man den Weg Parzivals verstehen, auf den er sich begibt, nachdem er die irdische Einöde des mutterhaften Weltbildes zurücklässt, bedarf es zunächst einer Betrachtung des Hintergrundes, vor dem sich die gesamte Legende abspielt. Freilich, ganz so leicht kann dies nicht werden, denn die Bühne Parzivals wird von dem vielschichtigen Gewebe der Mystik erzeugt; es bleibt hermetisch versiegelt, tief, unergründlich für den, der allein auf die fünf Sinne vertraut und den sechsten für unbrauchbare Phantasterei hält.

Sobald jedoch ein feinsinniger Mystiker das Werk »Parzival« des Wolfram von Eschenbach als ein wahres Zeugnis der Minnemystik des 12. Jahrhunderts zu verstehen weiß, ergießt sich ein Füllhorn voller Lilien und Rosen auf seinem Weg, und diese schenken ihm ungeahnte Einsichten in das Mysterium eines geheiligten Lebens. Für einen solchen Menschen allein wurde die Schrift Parzival verfasst, für denjenigen, dessen Liebeslust sich nach Erfüllung in allen vier Welten der Schöpfung sehnt, der in der Frau bereits die Göttin erblickt und in dem Mann den Logos. Die bloße Sexualität zwischen den Geschlechtern ist nicht zwingend als heilig zu bezeichnen, aber durch das hinzu kommende Begehren, die Liebe bis in die Höhe der Agape vollenden zu wollen, wird sie es in hohem Maß. Der Keim, aus dem die göttliche Liebe erwachsen kann, ist gerade in der erotischen Liebe zu finden. Diese zu verdrängen oder verbieten zu wollen, käme dem Abschneiden der Baumwurzeln gleich, was für den Baum unweigerlich den Tod der Krone nach sich zöge. Auch für die menschliche Entwicklung führt die Verdrängung der Sexualität in psychische Problembereiche.

In den ersten urchristlichen Sekten wurde das Erfüllen der Polarität auf allen irdischen Ebenen des Daseins – also auch auf der sexuellen – noch hochgehalten und in den Dienst kosmischer Einheitsfindung gestellt. Später aber versuchte der Klerus die Einheit innerhalb der Erdentage insoweit schon vorwegzunehmen, indem das Dualitätsprinzip (das Weibliche, das Stoffliche) bereits auf dem Erdenplan verunglimpft wurde. Damit begann der Unterdrückungsfeldzug wider das Erotische. Aber die geheuchelte Reinheit und erzwungene Keuschheit riefen ungute Schattenauswüchse auf den Plan. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, trafen sich in der Mitte des Fische-Zeitalters die Minnesänger in den Burghöfen und verbanden sich zu kleinen Geheimbünden, die ihre Aufgabe darin sahen, das heidnische Urwissen von der Magie zwischen Mann und Frau vor der drohenden Vergessenheit zu retten. Das althochdeutsche Wort »Minna« bedeutet Liebe und Freude zugleich.

Mit dem Anliegen der Fedeli d’Amore (Freunde der Liebe), wie sich einige Gruppen nannten, fügten sich die Minnesänger als kleine Steine in das große, nach allumfassendem Geist strebende Mosaik des Tempelrittertums ein. So kam es zu Sympathiebekundungen zwischen Troubadouren, dem Orden der Tempelritter und den Gralsorden. Alle hüteten sie den Schatz des geheimen Wissens. Die Gralssucher schwiegen zunächst, die Troubadoure sangen, aber die Tempelritter meldeten sich ziemlich deutlich zu Wort. Und sie wussten genau, wovon sie sprachen. Die Kirche selbst hatte sie einst als Ritter ausgesandt, um die morgenländische Welt zu christianisieren. Aber es kam ganz anders. Als die kämpferischen Missionare in das Abendland zurückkehrten, waren sie um vieles Wissen reicher, kannten die innere Gleichheit aller Religionen und neigten ihr Haupt vor den esoterischen Strömungen fremder Kulturen. Mit ziemlicher Besorgnis blickten sie sich in den religiösen Hallen ihrer Heimat um und erfassten die Tragweite fehlender Weisheit.

Das okkulte Wissen schien in der christlichen Domäne abhanden gekommen zu sein. Obwohl die Symbolik in den heiligen Worten, in Kirchenfenstern, auf den Altären, in den Messen und Sakramenten, von einweihender Sprache waren, hegten die Tempelherrn doch damals den Verdacht, der Klerus wolle (oder schlimmer noch: könne) jene geheimnisvollen Brücken nicht mehr errichten, die einer äußeren Religionsform den inneren Halt verleihen. Es fehlte offenbar das, was in anderen Glaubensformen in großartiger Weise vorhanden war; die Initiatenorden, in denen dem Wissbegierigen die tiefere Sinnhaftigkeit des Glaubens offenbart werden konnte.

Diese Lücke begann man etwa nach tausend Jahren Christentum fieberhaft zu schließen. Die Templer vollbrachten dies in ihren Heiligtümern, die sie bewusst Tempel und eben nicht Kirche nannten, um zu zeigen, dass auch das alte Wissen der Eingeweihten aus Ost und West hier ein Dach über dem Kopf habe. Irrtümlicherweise glaubte die Kirche, in den Herren Templeisen eine Gefahr für sich selber sehen zu müssen, obwohl diese nicht bestand, da die heiligen Ritter in ihren Kernaussagen christlicher als christlich waren. Das rote Kreuz, das die Templer auf ihren weißen Gewändern trugen, bezeugte sowohl Liebe als auch Toleranz für das Christentum, wollte jedoch dessen Untergangssymptom kurieren, welches sich im Einsetzen des totalitären Heilsanspruchs ausdrückte.

Man könnte sich den Verbund des Templerordens und der Minnesänger so vorstellen: »Draußen« (in den Städten und Burghöfen) sangen die Troubadoure und erweckten schlummernde Bedürfnisse in der suchenden Seele, und »Drinnen« (in den Tempeln) warteten die Tempelherren mit ihren Einweihungsmysterien auf, in denen sie dem Christen die Symbolschlüssel zurückgaben.

Jenes Werben für das Wissen der inneren Tempelarbeit verbarg sich wohlweislich in den scheinbar harmlosen Liebesliedern, mit denen sie um die Gunst einer liebreizenden Holden zu buhlen schienen. Aber eben dieser Schein trog. Manch einem Minnesänger mag es wohl tatsächlich nur um das sinnliche Amörchen gegangen sein, aber in der Regel verfolgten die Sänger und Dichter des 12. Jahrhunderts ein weitaus höheres Ziel. Bei genauem Zuhören waren es zum Teil wahrlich Hohelieder, die mit Fleiß und Hingabe gesungen und zumeist in voller Absicht dem salomonischen Geist unterstellt wurden.

Der gefangene Seelenvogel

Die Minnesänger malten das klassische Bild ritterlicher Liebe in einer Weise in die Kollektivseele des Abendlandes, dass es in jedem Menschen abrufbar blieb: Im Inneren der Festung wohnt die schöne Burgherrin, eingesperrt, ein wenig gelangweilt, aus einem eingeschränkten Gesichtskreis sehnsüchtig am Fenster nach draußen schauend, wie ein Vogel aus dem Käfig. Und vor dem Fenster, frei unten im Hof stolzierend, trällert der Minnesänger seine mantrahaften Weisen; seine Lieder erzählen von einer Liebe, die mehr ist als Pflicht, mehr als In-Sicherheit-Sein, mehr als Gewohnheit ... und die Schöne lauscht und lauscht, mit einem Herzen, das aus der Brust springen möchte. Ist dies etwa kein hübsches Bild für die eingesperrte Seele im Körper? Oder für den gelangweilten Menschen in einer verweltlichen Kirche? Oh doch, diese Metapher kennt jeder so gut, weil sie den Ruf der Seele nach Erlösung aus der Gefangenschaft in Zeit und Raum darstellt.

Der Minnesänger entspricht dem Geistaspekt, der die Seele inspiriert und lockt, und er gleicht einer Einweihungstradition, die die alten Töne neu anschlägt und ein wirkungsvolles Erweckungslied singt. Der Vogel wird sich dadurch seines Käfigs bewusst und versteht nun endlich seine Traurigkeit. Bleibt ihm nur noch zu weünschen, eines Tages die Pforte offen zu finden und sich mit weit ausholendem Flügelschlag in die Lüfte erheben zu können. Die folgenden Textauszüge aus Minneliedern geben dem Kenner jenen alchimistischen Geist sehr gut wieder, in dem die Troubadoure schwingen.


Als die Luft mit Sonnenfeuer
temperiert und gemischt wurde,
gab das Wasser seinen Anteil dazu,
so wurde der Leib der Erde erfrischt.
Durch ein heimliches Umfangen
wurde sie mit Früchten der Freude schwanger.
Dies bewirkte die Luft – ungelogen.
Schaut selber auf den Anger hinaus,
Freude und Freiheit, dazu ist die Welt gemacht.

Burkhart von Hohenfels


Der Sänger ruft hier die Vier Elemente der Eingeweihten wieder auf den Plan und macht deutlich, wie wichtig es ist, alle vier Qualitäten in das Gleichgewicht zu bringen, um die Enge des Bewusstseins zu überwinden und eine geistige Freiheit zu erlangen. Das folgende Gleichnis vom Falken macht deutlich, die innige Berührung mit der Religion sollte einen freien Menschen hervorbringen, der sich mit Hilfe der Mysterien zu erheben weiß.
Dieser Vers kündet von einer individuellen Reifung, einer geistigen Bereicherung der menschliche Seele und räumt mit einem Irrtum auf: Religion und Dogmatik sind nicht das Ziel, sie sind der Weg zum Ziel.


Ich zog mir einen Falken, länger als ein Jahr.
Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte,
und ihm sein Gefieder mit Goldgeschmückt hatte,
stieg er empor und flog davon.

Der von Kürenberg

​So gaben die Sänger ihr Bestes und verbargen die gewaltige Lehre der Tempelritter in den zarten Gesängen, und so manche Seele bestieg liebend gern das Pferd einer höheren Erkenntnis.

Kyot und Flegitanis, die Eingeweihten

Als eines Tages der überirdische Kelch der Gralsmystik in den Minnehöfen der Sänger durch Chréstien de Troyes, Robert do Boron herumgereicht wurde, labten sich die Durstigsten der Künstlerseelen an der minniglichen Kunst, die - wie so vieles mehr – aus diesem Gefäß wie himmlisches Nektar floss. Vor allem Wolfram von Eschenbach nahm das Gralsfluidum in einer Weise in sich auf, die sein Werk unsterblich machte.

Erst in der Mitte seiner Dichtung (Verse 453-455) nennt er seine legendäre Quelle, aus der ihm die Aventüre, die Geschichte der Gralsfindung zugeflossen sein soll. Er spinnt Fäden in die esoterische Vergangenheit und bringt sich damit vor dem Vorwurf in Sicherheit, nicht zeitgemäß, das hieß damals, nicht christlich genug zu sein. Eschenbach berichtet, Kyot, »ein berühmter Meister der Dichtkunst«, hätte einst in Toledo, in einer unbeachteten arabischen Handschrift, die Erstfassung der Parzival-Erzählung gefunden; sie stamme von der Hand eines Heiden namens Flegitanis, den man wegen seines umfangreichen Wissens gepriesen hätte. Flegitanis sei es gewesen, der die Geschichte sorgsam aufgeschrieben hätte. Damit setzt Eschenbach gleich zwei Generationen von Gewährsmännern vor seine eigene spitze Feder. Darin liegt ein überlieferter Kunstgriff okkulter Literatur. Gerade deshalb konnte er diese Hinweise nicht schon am Anfang geben. Er erwähnt es mitten in der spannenden Handlung vorsichtig, wie nebenbei, taktiert aber in wenigen Sätzen so klug, dass jedem klar ist, wessen Kind sein Werk über den Gralsmythos sein will. Er beschreibt Flegetanis, dessen Name in persischer Sprache Sternenschrift bedeutet, als heidnischen Gelehrten, der mütterlicherseits bis auf das Geschlecht Salomons zurückgehe und außerdem in den Sternen lesen könne. Damit gibt er ihm deutlich die geistige Heimat von Mütterchen Kabbalah und der Astrosophie. Da dieses alte Wissen aber von dem christlichen Denken ausgeklammert wird, obwohl das christliche Heilsgeschehen erst durch diese Schlüssel vollends zu erkennen ist, schiebt Eschenbach zwischen sich und den Okkultisten Flegitanis jenen Meister Kyot aus der Provence, von dem es ausdrücklich heißt, er sei christlich getauft. Wäre er es nicht, hätte er ohnedies die Erzählung nicht erfassen können, wird zur Sicherheit noch hinzugefügt. Kyot habe erst die fremde Schrift lesen lernen müssen, bis er die Handschrift des Flegetanis entziffern konnte. Dann aber sei er ihm langsam auf die Spur gekommen und habe herausgefunden, dass Flegetanis in der Konstellation der Gestirne das Geheimnis des Gral entdeckt hätte. Flegetanis erklärte, es würde ein Ding geben, das der Gral hieße. Diesen Namen habe er unzweideutig in den Sternen gelesen. Eschenbach formuliert die wichtigste Gralsbotschaft.


Eine Schar von Engeln ließ den Gral auf der Erde zurück,
bevor sie hoch über die Sterne empor schwebte
und vielleicht, von ihrer Schuld befreit,
wieder in den Himmel gelangte.
Seither müssen ihn die Christen mit ebenso reinem Herzen hüten.
Wer zum Gral berufen wird, besitzt höchste menschliche Würde.


Kyot, der diese Worte ausgräbt, wird beschrieben wie ein Eingeweihter. Es heißt, er forsche in vielen Kulturen nach, ob es dort ein Gralsmysterium gebe. Die fremde Schrift, die er erst lesen lernen musste, ist natürlich das Geheimwissen, dessen Wind auch durch die Parzivaldichtung weht. Auf diese Weise findet er schließlich die ganze Geschichte, die dann als Aventüre zu Eschenbach kommt.

In Meister Kyot zeigt sich die Sympathiekundgebung der Minnesänger an die »Templeisen« am besten. Er ist historisch nicht nachweisbar. Aber das muss er auch nicht sein, denn Kyot steht als große Kultfigur im Hintergrund der Dichtung und verkörpert den Drang, alle Weisheit der ganzen Welt erlangen zu wollen – »derohalben sich allein das Leben lohnet«, wie dies die Rosenkreuzer ausdrücken.

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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