Kondwiramur, Kriegsdienst aus Liebe

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Die Weltenschule von Fürst Gurnemanz, die Parzival absolvierte, entspricht dem Tierkreis der Zwillingen. Dort erfuhr Parzival jene Erziehung, die ein Ritter benötigt, um »ohne Tadel« zu sein. Danach besitzt er Fertigkeiten in allen Disziplinen des Kampfes und weiß sich in den gesellschaftlichen Belangen adäquat zu benehmen.

Wolfram von Eschenbach spricht von Tugenden – heute würde man sagen: Parzival wurde in jeder Hinsicht weltmännisch. Dies beginnt bei seiner Kleidung. Parzival lernt, feine Stoffe, gute Schnitte und Zobelbesätze zu schätzen. Auch wenn darin zunächst nur Äußerlichkeit liegt, ist es dennoch von keiner geringen Bedeutung, sich einer Situation entsprechend kleiden zu wollen, spiegelt dies doch eine innere Haltung wider. Auch im einundzwanzigsten Jahrhundert zeigt das Einkleiden eine rückschlussstarke Signatur auf. Man beobachte einmal jene Mitmenschen, die zeitlebens nicht aus ihren Windeln herauskommen, da sie eine saloppe kindliche Kleidung an jedem Ort für passend halten, und schnell merkt man, auch ihr Gemüt hängt im Krabbelalter fest, es wurde nie erwachsen und gleicht dem pflegeleichten Sweatshirt, der bequemen Baumwollhose und den ländlichen Wollsocken – da ist einer zu weich, hat weder Lust auf gesellschaftliche Auftritte noch anerkannte Leistung für die Allgemeinheit. Solche Positur verletzt die Spielregeln der profanen Welt, verhindert eine höhere Position im Rampenlicht des Erfolges und wächst sogar bisweilen zur Posse heran.

Um Manneskraft zu entfalten, genügt es nicht, von Herzeloyde und aus der Einöde Soltane wegzuziehen. Parzival braucht Schliff, und den verlieh ihm Gurnemanz. Unmittelbar danach weiß er, was es heißt, ein richtiger Mann zu sein: Der Rote Ritter ist nicht mehr nur rot, sondern ebenfalls kompetent und, wie wir noch sehen werden, auch potent. Und darin liegt bereits die höhere Weihe und Berufung der Gralsfindung, denn wie sollte ein Weichling oder ein Verweigerer dem heiligen Geheimnis des Weiblichen – das sich im Gral offenbart – auf die Spur kommen, wenn er selbst nie ganz Mann geworden ist?. Um die materielle Welt meistern zu können, muss der Mensch sich vor den weiblich-irdischen Gesetzen beugen und ihre Besonderheit erfüllen. Die polare Welt gleicht einer Frau, sie verlangt höchste persönliche Zuwendung und in jeder Hinsicht Ritterlichkeit.

Fluss und Meer

Folgerichtig muss Parzival nach der irdischen Schulung in der Gefühlswelt ankommen, die es nun zu meistern gilt. Das Tierkreiszeichen Krebs steht ihm hierfür zur Verfügung. Er überlässt seinem Pferd einen Tag lang die Richtung, gibt also den Willen vorübergehend auf. Dadurch kommt er in den Gewässern der Gefühle an. Dies geschieht wie von selbst, aus Sehnsucht nach Liasse, der schönen Tochter des Gurnemanz, mit der ihn zarte Bande verknüpfen und die er dennoch hinter sich zurück ließ, da er seinen Weg fortsetzen muss. Parzival begegnet dem seelischen Bereich alsbald auf der Symbolebene der Landschaft, durch die er reitet. Da gibt es einen reißenden Fluss, der ihn an seine eigenen Empfindungen des Fortgerissenwerdens erinnert, darum folgt er dem Flusslauf und gelangt zu der Stadt Pelrapeire, wo der Strom in das Meer mündet. »Das ist es.« würde Merlin in dem Film Excalibur sagen, denn genau dies wird mit Parzivals Gefühlen geschehen; sie werden Stock und Stein überwinden, eines Tages aus dem persönlichen Bereich herausfließen, sich geläutert und voller Weisheit in das Schöpfungsmeer ergießen und es auf diese Weise beschenken. Doch vorerst gelangt er über eine schwache, wackelige Brücke auf ein Schlachtfeld unterhalb eines hoch aufragenden prächtigen Palastes. Er geht auf ein fest verrammeltes Tor zu und klopft heftig mit einem eisernen Ring, ohne Einlass zu finden. Nur eine schöne Jungfrau steckt zaghaft den Kopf durch ein Fenster und teilt ihm mit, die Stadt sei erbittert belagert und es gehe allen Bewohnern schlecht. Parzival bietet sogleich seine Dienste an, und die Jungfrau erwirkt seine Einlasserlaubnis bei der Königin von Pelrapeire.

Seelenhunger

Wir befinden uns ganz in der Krebslandschaft, in der die irdischen Bedingungen für die Seele aufgezeigt werden, darum gibt es in dieser Stadt keinen König, sondern eine Königin. Die Seele sieht sich der Unterdrückung der Dualität ausgesetzt und hat gleichsam »ihren Kampf«. Denn Krebs (=Wasser) ist ein kardinales Zeichen (=Feuer) und lebt deswegen mit den Gefühlen noch sehr vordergründig im Streit. Von vielen Seiten werden die feineren Sinne der Seele durch materielle Einflüsse bedrängt, darum leidet sie hier Entbehrungshunger, so wenig ähnlich ist diese Landschaft der wahren Seelennatur. Von Unterdrückung und Qual gezeichnet, ganz und gar durch irdische Belange beknechtet, so erblickt Parzival Pelrapeire, synonym für den Zustand der eigenen nach Erlösung lechzenden Seele, der er sich hier zuwenden wird. Die Gesichter der Bewohner sind fahl, Wangen und Bäuche eingefallen, und wie eine dunkle Wolke hat sich die Bedrückung über der Stadt ausgebreitet.

Gespräche zwischen Seele und Mensch

Die Seele selbst jedoch bleibt sogar in der größten Aussichtslosigkeit und Bekümmernis strahlend jung und schön. Denn als Parzival der Königin von Pelrapeire gegenüber tritt, verschlägt es ihm fast den Atem, von solch liebreizender Anmut steht Kondwiramur vor ihm. So viel Schönes auf einmal hat er noch nie an seinem weiblichen Wesen erschaut. Herzeloyde war warm, Jeschute sinnlich, Sigune rein. Kunneware weise, Liasse blühend, aber Kondwiramur ist alles zusammen und besitzt noch dieses unnennbare Etwas, das eine Frau nur für jenen bereit hält, der den Abglanz seiner eigenen Seele in ihrem Antlitz zu finden vermag.


Mit ihr schuf Gott Vollkommenstes.
Dies war die Herrscherin des Landes;
es war wie wenn im süßen Tau
die Rose aus der Knospenhülle
in ihrem frischen Schimmer bricht,
und zwar zugleich in Weiß und Rot
das brachte ihn in Herzensnot.
Wolfram von Eschenbach


Parzival ist im Bannstrahl der Liebe angekommen, was sich in den ersten Minuten seines Zusammenseins mit Kondwiramur darin zeigt, dass er kein Wort mehr hervorbringt. Ihm, dem sonst das Herz so leicht auf der Zunge liegt, hat es förmlich die Sprache verschlagen. Erst nachdem die Königin ihn direkt nach seinem Weg hierher fragt, kann er Antwort geben. Offensichtlich hat der Ritter ohne Tadel, angesichts der über ihn hereinbrechenden Gefühle, das Agieren in das Reagieren verwandelt.

Just als die Königin dem Gast Näheres über das Leid und den Hunger der Stadt mitteilen möchte und die Schulter des jungen Helden zum Anlehnen zu nehmen beabsichtigt, bekommt sie gleich von zwei ihrer Untertanen reichlich Nahrung versprochen, die diese in einer Gebirgsschlucht noch auf Vorrat horten. Bald werden Fleisch, Schinken, Käse, Brot und Wein gebracht. Das erste Wunder geschieht durch die gegenseitige Öffnung von Mensch und Seele. Der gröbste Hunger wird allein schon dadurch gestillt, dass beide einander endlich zuhören. Kann man wahre Seelenarbeit schöner beschreiben?. Parzival und Kondwiramur retten mit den Speisen einige des Hofes vor dem Hungertod und nehmen selbst nur ein karges Mahl in Form einer trockenen Scheibe Brot zu sich. Ein jeder von ihnen verzehrt die Hälfte davon und ist froh damit – wohl bereits im inneren Erkennen ihrer höheren Einheit.

Vertrauen zwischen Seele und Mensch

Mitten in der Nacht kommt es zu einer nächsten Begegnung. Kondwiramur trägt ein weißseidenes Nachtgewandt mit einem Samtmantel darüber und begibt sich zum Bett Parzivals. Ihr Schluchzen weckt ihn auf, und er bietet ihr Schutz unter seiner Decke und ein offenes Ohr. Die Königin teilt ihm alle näheren Umstände mit, die zu der Belagerung führten und auch den Ernst der Lage. Bei Tagesanbruch dankt ihm die Sorgenvolle und verlässt Parzival so jungfräulich, wie sie zuvor gewesen ist. Danach weiß Parzival, was er zu tun hat, um die Stadt und die Schöne zu befreien. Bislang hat er Hilfe häufig gefordert, jetzt wird er reif, sie zu erteilen. König Klamide und dessen Seneschall Kingrun haben bereits das ganze Land verheert, nur Pelrapeire trotzt ihren Angriffen noch. Den wesentlichen Hintergrund bildet das Werben Klamides um die Hand Kondwiramurs, die diese ihm jedoch versagt.

Parzival weiß: Welt ist Krieg. Darum vermeidet er die Auseinandersetzung nicht, sondern stellt sich mutig den Angriffen der Materie. Er zieht gegen das Heer, fordert den bislang als unbesiegbar geltenden Kingrun zum Zweikampf und besiegt ihn so eindeutig, dass Kingrun mit letzter Kraft ein Unterwerfungsgelöbnis leistet. Mit großen Begeisterung empfängt die Königin den Sieghaften und bietet ihm an, sie zu ehelichen. Kaum ist es ausgesprochen, hat der Hunger der Seele gute Aussicht auf Besserung, denn zwei fremde Schiffe treiben herrenlos in den Hafen der Stadt, und man findet sehr viel Nahrung in ihrer Fracht. Der Tod ist aufgehalten, die Menschen haben wieder zu kauen, doch der Endsieg ist noch fern. Denn schon rüstet sich Klamide, der Stadt erneut unter Aufbietung aller Kräfte zuleibe zu rücken.

Kondwiramur und Parzival schließen indessen den Bund der Ehe. Freilich, noch zwei Nächte verbringt das minnende Paar in keuscher Nähe, in der dritten jedoch erinnert sich der wohlerzogene Sohn Herzeloydes an den Rat des Umarmens und an den Kuss, den er von einer holden Jungfrau nehmen solle. Gedacht und getan. Nachdem Seele und Geist sich schon einig waren, folgen nun die Körper wie zwei willige Hauskatzen und schlingen sich genüsslich ineinander. Dem selben alten Brauch zu folgen, so nennt es Eschenbach.

Die Ehe gilt von da an als vollzogen und Kondwiramurs Name erfüllt sich; heißt sie doch eigentlich Conduire Amour - Führung der Liebe. Ihre Farben sind Weiß und Rot; Weiß für die drei Lilien in ihrem Wappen, Rot für die Inbrunst, mit der sie Parzival liebt. Bei Chréstien de Troye heißt sie Blanche Fleur, Weiße Blume, und so ist sie auch: zart, edel und treu in Ewigkeit. Was Gahmuret, Parzivals Vater, nicht gelang, nämlich einer Frau die Treue zu halten, wird Parzival im Grund seines Herzens leichtfallen. Kondwiramur verkörpert den höheren Seelenaspekt Parzivals, den er zunächst noch nicht in der göttlichen Form des Grals zu integrieren vermag, sondern ihn als konkrete Animafigur begehrt. Darin liegt seine gesunde Entwicklung, in der die Dinge am rechten Platz geschehen. Würde er jetzt schon andauernd nach Einweihung und höherer Philosophie verlangen, wie er sie später von Trevrizent erhalten wird, litte er unter der gefürchteten esoterischen Neurose, da er die irdischen Notwendigkeiten überginge und wäre in der Folge weder für das Diesseits noch für das Jenseits zu gebrauchen. Parzival zeigt sich gerade in Pelrapeire männlich, stabil und belastbar, denn er liebt des Nachts, kämpft und rächt bei Tage. Wohlwollend blicken die Engel des Grals auf ihn herab und wissen, ihre Wahl war gut, denn hier besteht ein Mann die Prüfung der Welt, um zu denen des Himmels überhaupt Zugang zu finden.

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​Durch die Ehe mit der Königin wird Parzival selber zum König. Viele brechen im Tierkreiszeichen Löwe den Weg ab, wenn sie »König« geworden sind, das heißt eine Egoentfaltung erlangt haben. Aber ein Gralssucher darf dies nicht, hat er doch auch das innere Königreich zu beherrschen. Bei aller Romanze mit der schönen Gemahlin zieht sich Parzival nicht in ein dekadentes Herrscherleben zurück, sondern besiegt das Heer Klamides. Den Heerführer selbst bezwingt er in einem harten Zweikampf und erpresst auch von ihm das Unterwerfungsgelöbnis, indem er schweißtriefend vom Kampf die Schwertspitze auf den Besiegten richtet und ausruft: »Nie wieder wirst du meine Gemahlin bedrängen. Lerne jetzt, was Sterben heißt.« Aber in Anbetracht überzeugender Reuebekundungen lässt er Klamide leben. Ebenso wie Kingrun nimmt Parzival auch diesem Unterlegenen das Gelöbnis ab, an den Artushof zu gehen und sich dort im Auftrag Parzivals vor Kunneware zu verneigen.

Kondwiramur liegt nach dem endgültigen Sieg beglückt in den Armen ihres Retters. Der junge König erlangt noch ein beträchtliches Erbe von Tampeneire, seinem verstorbenen Schwiegervater, das er freigebig unter die Bedürftigen verteilt. Aber trotz allen irdischen Glücks verlässt er Kondwiramur eines Tages mit der Begründung, er wolle erkunden, wie es um seine Mutter stehe. Insgeheim erinnert ihn die intime Frau an die Mutter, die er verließ. Und genau so muss er nun die große Liebe seines Lebens verlassen, denn sein Weg verlangt ihm mehr ab, als in einem Gefühl von Nestwärme zu verweilen. Das Ziel eines Gralssuchers liegt nicht im Erdenschoß, sondern himmelwärts. Und wieder zieht Parzival allein davon – ganz durchdrungen von Abschiedschmerz.

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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