Der Weg zur Gralsburg

Parzival


Das Leiden ist das schnellste Pferd,
das uns zur Vollkommenheit trägt.
Denn es ist wahr und wird bis zum
Ende der Welt immer wahr bleiben,
dass nichts Großes in dieser
Welt geschieht ohne Leiden.

Arthur Schult


Dieses Zitat rückt den inneren Kern der Gralsbotschaft in das rechte Licht. Körperliches Leid gilt auf dem Schicksalsweg als notwendige Gelegenheit für einen Ebenenwechsel des Bewusstseins; ungeachtet des äußeren Willens zwingt das Leid zu diesem Schritt, denn es gehorcht einem inneren, wahren Willen. Leid ist auch auf dem Einweihungsweg ein unabdingbares Muss, dort kehrt das Leid in deutlich definierten Rhythmen in das Leben ein, wird gleichsam zu einer festen Rechengröße, die es stets einzuplanen, zu durchwandern und zu überwinden gilt. In den Phasen körperlichen oder seelischen Leidens erfährt auch der Adept den Schliff seines »Steines«, das heißt sein Bewusstsein wird Schicht um Schicht von falscher Meinung oder Aberglauben befreit, bis er leuchtet wie ein Diamant. Die Dichtung »Parzival« wurde für solche Christen geschrieben, die vergessen haben, wie sehr gerade ihre Religion den Segen des Leidens herausstellt. Die »Frohe Botschaft«, das Evangelium, liegt nicht in einer grundsätzlichen Leidvermeiderei, sondern in dem Auferstehungstriumph jenseits allen Leidens. Es soll klar werden, Leid gehört zum Leben, aber es ist zeitlicher Natur, und niemals gewinnt es das Spiel in der Ewigkeit, wo Frieden und Liebe herrschen und »kein Wolf die Lämmer reißt«, wie die Sumerer dies ausdrücken. Wer Leid hinter sich bringen will, muss den irdischen Plan verlassen. Dies wird jedoch erst möglich, wenn die Form kein Begehren mehr weckt. Ein solcher Akt ist ein schwieriges Unterfangen, er gelingt nicht ohne Mitwirken der himmlischen Gnade. Aus urchristlich-gnostischer Sicht genügt allein der Kreuzestod Christi nicht, um als Mensch vollendete Seligkeit und Ewiges Leben zu erlangen; die Vorstellung von der Fremderlösung hielt dort keinen Einzug, es gilt vielmehr, ihm nachzufolgen, das Kreuz der Materie auf sich zu nehmen und das Martyrium des irdischen Daseins bis zum letzten bitteren Trank auszukosten.

Parzival im Herzeleid

Parzival hatte in den Armen Kondwiramurs das Bedürfnis verspürt, seine Mutter aufzusuchen, nach deren Befinden zu fragen, ihr von seinen Abenteuern zu berichten und sie an seinem Eheglück teilhaben zu lassen. Also war er aufgebrochen, obwohl ihm das Herz vor Abschiedskummer fast brach.

Das Großartige in der Szene des Weggehens liegt in der liebevollen Gewähr Kondwiramurs. Indem sie sich Parzivals Willen nicht entgegenstellt, ihn also nicht anfleht, dazubleiben, Kinder zu zeugen und ein guter Vater zu werden, beweist sie neben wahrer Weiblichkeit auch Königswürde, denn sie stellt ihr subjektives Empfinden zurück. Sie weiß, ihn äußerlich zu halten würde bedeuten, ihn innerlich zu verlieren, weshalb sie lieber den freimütigen Verzicht leistet. Man vermag sich gut vorzustellen, wie die Königin vielleicht aus einem Turmzimmer des Palastes ihrem davon reitenden Gemahl nachschaute und wie beide unter dem Schmerz litten, den die zunehmende Streckung ihres Liebesbandes verursachte, hatten sie doch dessen Reißen zu befürchten. Aber das Band wird über Zeit und Raum erhalten bleiben. Ganz am Ziel seines Weges wird Kondwiramur an Parzivals Seite stehen und das Heil des Grals mit ihm empfangen – wie sollte es auch anders sein, sie ist ja die Verkörperung seiner Seele.

parzival-gralsburg

Vorerst jedoch weiß Parzival noch nichts von dem Gral und reitet in tiefer Wehmut immer weiter weg von Pelrapeire. Er wollte eigentlich nach seiner Mutter sehen, und in gewisser Weise kam er in ihrem Wesen an, denn ihr Name lautet »Herzeloyde«, Herzeleid. Genau dies spürt Parzival umso stärker, je weiter er sich von Kondwiramur entfernt. Durch das Ablösen von seiner Animafigur muss er nun selbst ganz in einem weiblichen Verhalten ankommen. Der sonst so Kämpferische und Sieggewohnte lässt die Zügel seines Pferdes schleifen, greift diesmal nicht in den Lauf der Dinge ein, lenkt nicht, herrscht nicht, sondern lässt willenlos geschehen. Bemerkenswerterweise legt er gerade dadurch an einem einzigen Tag eine derart weite Strecke zurück, die noch nicht einmal ein Vogel hätte im Flug überwinden können. Darin liegt die Botschaft, dass höhere Schwingungen eingreifen, wenn der Mensch »zum Gral berufen« ist. Verstandesmäßig und voller Absicht kommt niemand in dem Reich der Mystik an, dazu bedarf es eines tranceähnlichen Zustandes, der im Loslassen beginnt und von »Vögeln ergriffen wird«, was bedeutet, sich einer höheren Führung anheim zu geben. Parzival taucht dadurch in einen Seinsbereich ein, der sich vor der Rationalität ganz und gar verbirgt. Er befindet sich jetzt in einer geheimnisvollen Welt, wo sich Traumbilder wie Schleier über vorhandene Formen ausbreiten und diese mystifizieren. Symbolisiert wird dies durch Neptun- und Uranussignaturen.
Da gibt es einen See, an dem er am frühen Abend eintrifft. Fischer haben in Ufernähe geankert und warten still auf das Vollwerden ihrer Netze. In einem der Boote entdeckt Parzival einen prächtig gekleideten Fischer, dessen Hut dicht mit Pfauenfedern bedeckt ist. Der Pfau wird Uranus zugeordnet und versinnbildlicht das geistige Spektrum der Imagination und Inspiration. Parzival wendet sich dem Fischer zu, fragt nach einer Herberge und sieht im Näherkommen, wie sehr das alte Gesicht von Gram gezeichnet ist.

Übersinnliche Prinzipien werden hier zum Wegweiser auf die Gralsburg, denn der Fischer verkündet ihm, dass Land und Gewässer im Umkreis von dreißig Meilen völlig menschenleer seien, abgesehen von einer Burg, zu der er ihn guten Gewissens leiten könne; er solle sich dort auf den Fischer am See berufen, dann würde er eingelassen. Die Gralsburg steht demnach in der Mitte eines Umkreises von sechzig Meilen und verweist mit dieser Zahl auf das Mystische Weisheit.

Drei Hinweise für den Heilsweg

Parzival dankt und macht sich auf den gewiesenen Weg, und der Fischer ruft ihm noch hinterher: »Wenn Ihr richtig hinkommt, werde ich heute Abend selbst für Euer Wohl sorgen. Bemesst Euren Dank danach, wie man Euch aufnimmt. Seht Euch aber vor: Es gibt auch Irrwege, und am Felshang könntet ihr leicht in die Irre reiten. Ich möchte es Euch nicht wünschen.«

Der Fischer gibt hier drei wichtige Hinweise für den Weg zum Gral. Zunächst verbindet er den Weg mit dem Ziel, denn er selbst ist Alles in Einem: der Wegweiser, der Burgherr, der Fischerkönig Amfortas, der unglückliche Gralshüter. Niemand anderes vermag den Weg zu zeigen als der, der auch das Ziel darstellt: Nämlich der innere Anteil im Menschen, Christus oder das kosmische Selbst, das nicht mehr ganz heil ist, das »verwundet« ist infolge irdischer Wünsche, welche die unvermeidbaren Früchte des Inkarniertseins darstellen.

Als zweite Bedingung nennt der Fischerkönig eine wichtige Eigenschaft des Gralssuchers. Das Gesetz von Geben und Nehmen muss in Ausgleich gebracht werden, ja mehr noch: Licht und Schatten sollten sich miteinander versöhnen, der gesamte Du-Bereich, also jedwede Form der Begegnung, bedarf einer konsequenten Klärung. Projektionsflächen müssen zusammenbrechen, damit sich »Spiegelfechtereien« auflösen. Diesem Anspruch gerecht zu werden, gestaltet sich nicht leicht, und man wird bald sehen, Parzival beherrscht diese Kunst noch nicht.

Schließlich offenbart der Fischerkönig die Gefahr der Irrwege. Diese nennt man auch »Gegeninitiation«, und am besten versteht man das Phänomen, wenn man bedenkt, wie ungern »Frau Welt« und der Teufel die Erdenbürger auf einen höheren Plan entlassen, also schlagen sie mit massiven Einflüsterungsattacken um sich, wenn aus der initiatischen Richtung Gefahr droht. So kommt es dann, dass mancher Weg, der so glorreich begann, in größere Angst und Abhängigkeit bringt, anstatt in höhere Freiheit zu führen. Beispielhaft dafür sind jene bedauernswerten Astrologen, die ihre Disziplin dazu verwenden, Zynismus gegen spezielle Muster aufzubauen und sich in Ängste oder blinde Hoffnungen zu versetzen, weil vermeintlich »böse« oder »gute« Planeten Transite zum Radix bilden – sie hätten besser nie von der Sache gehört. Am Felshang in die Irre zu gehen, heißt auch ganz konkret, in dem Saturnprinzip zu versteinern. Zu viel Buchstabenwissen füllt den Intellekt mit Wissen an und lässt mit der Zeit ein staubiges Kopfarchiv entstehen. Wenn die Transformation in Erkenntnis ausbleibt, führt der Weg in eine seelische Sklerose anstatt auf den Heilsberg Montsalvat. Da stellt sich dann die Frage: Auf welche Weise wäre dieses Unglück vermeidbar gewesen? Es gibt eine sehr stimmige Antwort darauf: Durch das häufig wiederholte Durchwandern eines Rituals, wie es Parzival auf der Gralsburg bald einmal erleben wird.

Autoaggression im Purpurmantel

Unverdrossen trabt Parzival bis zu dem Burggraben, den er nicht überqueren kann, da die Brücke hochgezogen ist. Mit Staunen erschaut er am anderen Ufer Montsalvat, es ist ein wundervoller Palast mit vielen Türmen, der erhaben auf einer Höhe prangt und jede andere Burg, die er bisher sah, in den Schatten stellt. Ein Knappe bemerkt den Ankömmling. Parzival spricht die Empfehlung des Fischers aus, woraufhin sogleich die Zugbrücke hinabgelassen wird, und Parzival reitet unter achtungsvollen Willkommenswünschen seitens des Knappen in den Vorhof ein. Da er ein echter Ritter ist, fällt ihm sofort auf, dass der Rasen überall gepflegt ist, kurz, grün und gesund stehen die Halme, als wäre gerade eben noch Aphrodite darüber geschritten und Gott Ares schon lange nicht mehr da gewesen. Hier finden weder Turnierkämpfe noch Kriege statt, soviel ist gewiss. Auch hat man den Eindruck, dass nur selten Besucher eintreffen, denn viele Pagen eilen freudig erregt herbei und ein Jeder will dem Ritter als Erster behilflich sein. Flugs wird Parzival zum Absitzen bewegt und in ein Gastzimmer gebracht, wo man ihn im Handumdrehen von Rüstung und Schwert entledigt, um den Inhalt der Verpackung wohlwollend zu betrachten, denn Parzival – das wird immer wieder betont – ist an Wuchs und Ausstrahlung sehr, sehr schön, man erkennt an seiner äußeren Erscheinung bereits das edle Geblüt seiner Abstammung. Wer im Inneren schön ist, zeigt dies auch außen.

Parzival erbittet Waschwasser, spült sich die Rostflecken vom Gesicht und folgt damit intuitiv den Reinigungszeremonien aller Mysterienschulen nach. Rost entsteht auf Eisen durch Feuchtigkeit: Die Ritterlichkeit Parzivals erfuhr demnach unterwegs eine erste Auflösung durch das Element Wasser. In den Seelenwassern befreit sich der Mensch von dem mühsam erbauten Ichpanzer. Alles, was in der ersten Phase des Lebens an Charakterzügen und -stärken errichtet wurde, bedarf des langsamen Abbaus in der zweiten Lebenshälfte: Dem Aufrüsten folgt gleichsam das Abrüsten. Wer in diesem dualen Gesetz nicht tatkräftig mitspielt und versäumt, in der ersten Hälfte kein Königsego aufzubauen, beweist seine Unreife für das Erlangen besonderer Weihen in der zweiten. Denn beide Phasen haben ihren ureigensten Sinn; fehlt die erste, bleibt auch die zweite aus, und »Leben« degeneriert aus der Sicht des Heiligen Geistes zu »Vegetieren«.

Wer auf die Gralsburg gelangt, muss seine Aggressionen draußen lassen. Gereinigt und bar aller Waffen ist Parzival bereit, etwas Besonderes auf der Gralsburg zu erfahren. Man bringt ihm einen kostbaren Mantel aus arabischer Seide, womit Purpurseide gemeint ist: Diesen wirft er sich lose, der Mode seiner Zeit entsprechend, mit geöffneten Schnüren über die Schultern. Selbstverständlich verstärkt ein solcher Umhang noch die Herrlichkeit des jungen Mannes, und alle bewundern seinen Glanz. Dann wird ihm anvertraut, dass dieser Mantel eine Leihgabe von der Burgherrin Königin Repanse de Schoye ist. Darin liegt eine besondere Auszeichnung. Ein Okkultist weiß, es ist das untrügliche Signum wahren Auserwähltseins. Parzival erkennt jedoch diese Ehrengeste nicht, denn in das Mysterium des Purpurmantels aus der Hand einer Königin ist er noch nicht eingeweiht, ihm genügt es zunächst, sich darin recht ansehnlich zu empfinden.

Als Nächstes wird der Gast vortrefflich verköstigt, aber während des Mals kommt es zu einem unangenehmen Zwischenfall. Der zungenfertige Hofnarr foppt den speisenden Parzival, indem er ihn vor den Hausherrn zitiert, als habe er einen Fehler begangen. Narren sagen bekanntlich die Wahrheit, und obwohl es nur ein Scherz sein sollte, trifft die Bemerkung Parzival tief in der eigenen Brust, nehmen doch diese Worte sein Versagen auf der Gralsburg vorweg, entsprechen also in letzter Konsequenz der zukünftigen Wirklichkeit, das spürt er intuitiv im Voraus. Am liebsten hätte er deshalb den Scherzenden umgebracht, da er aber keine Waffen zur Hand hat, ballt Parzival die Faust so heftig, dass das Blut unter den Nägeln hervorspritzt. Jetzt, da ihm in dem Reich der Mystik das Kämpferische genommen wurde, hat er selbst mit seiner Wut zurecht zu kommen. Er fühlt sich beleidigt, aber nur das Ich reagiert so. Das höhere Selbst demonstriert stets Großmut und Toleranz, darum ist es ein untrügliches Zeichen. Wer schnell beleidigt oder betroffen ist, steckt mit beiden Beinen in den Ichstrukturen fest und sollte sich besser nicht der Illusion hingeben, frei von der Ichverhaftung zu sein, sonst »blutet die eigene Faust«. Auch in Parzival kommt es zu einem inneren Konflikt zwischen Ich und Selbst, und deshalb verletzt er sich selber.

Hier zeigt sich sehr gut, wofür die Seelenarbeit »Tempelschlaf« eingesetzt werden kann. Wer nämlich den wässrigen Weg friedvoller Mystik beschreitet, beraubt sich oftmals verfrüht seiner irdischen Kampfarena, wirft Schuldprojektionen über Bord, die er eigentlich noch dringend für sein Starkwerden bräuchte, und neigt dazu, sich masochistisch lieber selbst zugrunde zu richten als mutig mit dem Außen zu fechten. Häufig ist der embryonale Mystiker für den hoch trabenden Bewusstseinszustand, in dem er sich schon zu befinden glaubt, nicht auf allen Ebenen herangereift; es gibt noch immer ein gieriges, dominantes Ich, das zwar in einer wattigen Zwangsjacke steckt, aber gerade dort zutiefst beleidigt und enttäuscht werden kann. In Trance also auf der Imaginationsebene vermag man seine Wut, den Hass, den Ekel, die Frustration und das nicht zu unterschätzende Beleidigtsein wieder zu befreien, anzuschauen und als eigene Anteile zu integrieren. Dies befreit von der gefürchteten Autoaggression, die bekanntlich eine Invasion von Symptomen nach sich zieht. Wird man sich ihrer nicht bewusst, fängt man an zu husten, zu knirschen, zu humpeln, zu zittern oder zu bluten.

Mit Hinweisen auf die Redefreiheit des Narren vermögen die Knappen Parzival zu beruhigen. Sie versichern ihm, er sei ein willkommener Gast und führen ihn alsbald in den Tempel der Gralsburg, wo er ein gigantisches Ritual erleben wird.

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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