Prometheus – Ein Vorausdenker im Dienst der Vergeistigung
„Zeus selbst führt uns zu des Pfades Weisheit: LEID ist LEHRE ewiglich gilt dieses Wort. Statt Schmerz vergessenden Schlafes rieselt die Qual zum Herzen und widerstrebend werden wir klüger; gewaltsam führen die Götter die Ruder und verleihen uns so die WEISHEIT.“
Diese Worte, die wie keine anderen den Weg zu himmlischer Weisheit beschreiben, hat uns der altgriechische Tragödiendichter Aischylos (524 – 456 v.Chr.) als 1. Chorlied in seiner „Orestie“ hinterlassen. Das Schicksal des Orestes nimmt sich in der Aischylos-Fassung noch sehr mutig eines mythologischen Themas an, das die Erlösung von der materiellen Absonderung (=Erbsünde) in dem Freispruch von einem „Muttermord“ abbildet. Frühere Kulturen hatten mit einem solchen markanten Motiv überhaupt kein moralisches Problem. Sie sahen darin keine Aufforderung, ihre leibliche Mutter umzubringen, denn so vordergründig sind die antiken Dichter wirklich nicht gewesen! Aber spätere Dichter, Anouilh, Dumas, Sartre, Schlegel und Voltaire hatten die metaphysischen Schlüssel für das Thema des Muttermordes gänzlich verloren und schämten sich offensichtlich für die alten tragischen Bilder, weshalb sie deren Spitze nahmen, indem sie Orestes unbeabsichtigt töten ließen und ihm somit die apollonische Lossprechung von der Schuld einräumen konnten. Damit haben diese Dichter aber nur bewiesen, dass ihr philosophisches Sprungseil ein wenig zu kurz geraten war, um sich auf die antiken Mythen einschwingen zu können. Wohingegen – gottlob heute wieder – jeder, der den analogen Blick geschult hat, sofort versteht: „Mutter“ entspricht archetypisch dem Prinzip Mond, und Mond ist die Signatur des kleinen irdischen Menschen, der geopfert bzw. im Größeren aufgehen muss, damit anstatt des Erdenbürgers wieder der Gott im Menschen zu leben vermag.
Vor diesem Hintergrund sollte man sich hüten vor vorschnellen Abänderungen unbegreiflicher Mythen. Einer ähnlichen Verharmlosung aus Unverstand könnte recht schnell der Mythos von Prometheus zum Opfer fallen, sofern er in den Denkapparat eines moralisierenden Menschen gelangt. In der Fassung von Aischylos, die uns leider nur fragmentarisch erhalten blieb, begegnet uns die mythologische Darstellung der Prometheus-Figur noch sehr stimmig und wertfrei.
Die Erfahrung, dass solche Mythen wie Prometheus sehr unsanft in die menschliche Psyche greifen und allzu empfindliche Gemüter gewaltsam aus dem Schlaf der Ahnungslosen reißen können, führt in unserer Epoche bei einigen Menschen zu der Verwerfung antiker Legenden. Dann wird jedoch bedauernswerter Weise der brauchbare religiöse Kern in den psychisch hochwirksamen Bildern getötet – und die Neurosen finden den besten ihrer Heiler nicht!
Es lohnt sich, Prometheus einmal mutig in das Gesicht zu blicken, zu erkennen, worin seine Absicht liegt und welchen würdigen Platz der Listige und Gescheite in der Seelenlandschaft des Menschen einnehmen möchte. Prometheus vollbringt Leistungen, die eines Titanen würdig sind, er stiehlt das Feuer von den Göttern und bringt es den Erdenbürgern. Für diese Tat wird er im Auftrag von Zeus dazu verurteilt, dreißigtausend Jahre an einen Felsen geschmiedet zu verbringen. Und um diese Marter für Prometheus noch zu verstärken, fliegt tagsüber der Adler des Zeus herbei und frisst von seiner des Nachts nachwachsenden Leber.
Das sind Bilder von heißen Qualen, für die heutzutage nur wenig Akzeptanz besteht, da der Zugang zu solch monströser Dichte durch eine Verharmlosung des menschlichen Auftrages verstellt wurde. Diesseitig zufrieden zu sein, glimpflich durch das Schicksal zu gelangen und mächtigen Herausforderungen gekonnt auszuweichen, darin liegt die Lieblings-Devise des modernen Lebensstils. Aber Halt! Genug ist nicht wirklich genug! Wer sich in der scheinbaren Obhut einer weichen Wohnlandschaft einkuschelt und sich gut fühlt, weil er so etwas Frevlerisches, wie der Götter Feuer zu stehlen, ganz bestimmt niemals unternähme und folglich einer derartig grausamen Züchtigung auch auf Dauer entkommen müsse, der würde sofort entsetzt hochschrecken, wenn er nur im Anflug ahnen könnte, in welch nahem Grad er selbst mit Prometheus verwandt ist und wie sehr er sich irgendwann einmal freiwillig auf den Weg dieses Helden begeben muss.
Bliebe der Mensch dem Titanen Prometheus gegenüber in der Haltung stecken, das Angeschmiedetsein am Felsen geschehe diesem hybriden Frevler recht, so wäre es besser, er hätte nie von diesem grandiosen Mythos gehört. Die Geschichte von Prometheus birgt ein ungeahntes Mysterium mit tiefen Schichten, deren symbolisches Erschließen bereits ein ganzes Leben beansprucht. Das erfahrbare Durchwandern dauert jedoch Aeonen.
Um den Prometheus-Mythos gut verstehen zu können, braucht man einige Vorkenntnisse, welche die sehr enge Verbindung von Zeus und Prometheus aufzeigen, denn nur vor diesem Hintergrund lassen sich die ergreifenden Bilder sinnvoll durchschauen; sie erzählen von dem heiligen Bund zwischen Menschen und Göttern.
Die Brüder Prometheus und Epimetheus
Von Prometheus hören wir das erste Mal zu jenem Zeitpunkt, in dem die Brüder Zeus, Poseidon und Hades die Weltherrschaft gerade unter sich aufgeteilt haben. Da Zeus den Blitz besitzt, also als einziger der drei Götter männlich-feurige Schöpfungsimpulse in die Welt setzen kann, reißt Zeus nach dem Sieg über die Titanen die Alleinherrschaft auf dem Olymp an sich, während die Brüder Poseidon und Hades sich in das Meer und die Unterwelt zurückziehen. Die Titanen wurden von Zeus als entmachtetes Göttergeschlecht in den Tartaros verbannt. So auch der Titan Japetos, der vier Halbtitanen-Kinder hinterließ, die er mit der Nymphe Klymene gezeugt hatte. Zwei davon sind nun die Brüder Prometheus und Epimetheus. Sie stellen die duale Form des Umganges mit dem Lebendigsein dar. Prometheus, dessen Name „der im Voraus Wissende“ oder auch „der Vorsorgende“ bedeutet, verkörpert das mutige Ausloten der Spannung zwischen Himmel und Erde. Ein Vorausdenkender ist jemand, der sich um höchste Einsicht bemüht und all seine dynamischen Aktionen gezielt, hellwach, weithin sichtbar in das Leben hinein brennt und sich damit unvergesslich macht. Vor allem aber fühlt er sich für alle seine Handlungen voll verantwortlich. Ein Prometheus plant vor, handelt höchst geschickt und – sofern er damit ein bestimmtes Ziel erreichen kann – setzt er sich sogar bewusst Gefahren aus, von denen er weiß, wie verheerend sie stets ausgehen. Prometheus versinnbildlicht den erwachsenen, selbstbewussten Strang im dualen Sein des Universums. Der kindlich naive Aspekt tritt diesem in Gestalt des Epimetheus gegenüber. Dessen Name bedeutet „der erst nachträglich Lernende“ oder auch „der Unbedachte“, denn er lebt gleichsam in einer Nebelschwade, weiß zu keiner Zeit wirklich, was er tut, und bleibt verantwortungslos wie ein Kind. Seit nun in unserem modernen Zeitalter die Jesus-Worte: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder so gründlich missgedeutet wurden – nämlich als ob das höchste Menschsein, das es zu erreichen gilt, der Bewusstseinsgrad eines lallenden, krabbelnden Kindes sei – wird in unserer Zeit freilich so schnell keiner erwachsen. Schon deshalb könnte unsere Kultur sehr viel lernen, wenn sie einmal die simplen Paradigmen soziologischer Weltanschauung außer Acht ließe und auf zurückliegende Mythen griffe, welche nichts anderes bergen als ältere Quellen der universellen Religion. Die kindliche nichtwissende Natur des Epimetheus stellt eine Schattenmanifestation von Prometheus dar, die natürlich unweigerlich irgendwo mitlaufen muss, denn aufgrund seines mütterlichen Erbguts ist Prometheus nicht mehr von reiner Göttlichkeit, und folglich sind auch seine Handlungen aus der schuldfreien Dimension gestürzt. Allein Zeus als Einheitsaspekt, der gemeinsam mit Hades und Poseidon eine Trinität bildet, bleibt frei von jeglicher Schuld, trägt also keine Bürde der Konsequenzen. Doch Promtheus als späte Linie der Titanen befindet sich nicht mehr in der Einheit. Jenes Unheilsein macht ihn zu einem Mittlergott zwischen Zeus und den Menschen, die sich langsam unten auf der Erde als Spannungsergebnis zu der alleinigen Herrschaft von Zeus herausbilden.
Menschen, von Prometheus aus Lehm geformt
In dem altgriechischen Mythos erfahren wir, dass es Prometheus ist, der die Menschen aus Lehm formt und sie dann Zeus zur Begutachtung vorlegt. Damit zeigt Prometheus bereits seinen krumm denkenden Charakterzug, der ihn zu einem ungeheuer listigen Wesen macht. Setzt er doch mit seiner Erschaffung von Menschen allmählich ein Gegengewicht des Olymps auf die Erde, wohl mit der Absicht, die Macht des Despoten aus dem Pantheon zu schmälern. Sukzessive sägt er an dem Thron seines väterlichen Gottes, indem er seine Menschen als Gegenpol zum Göttlichen erstarken lässt. Ganz zu Beginn seiner Aktionen machte er sich Zeus auf listige Art gewogen, weil er an der Seite von Zeus gegen die Titanen – also sogar gegen seinen leiblichen Vater Japetos – mitkämpfte, und dann begann er langsam und unaufhaltsam mit seinem Werk der Empörung gegen Zeus.
Nun hegt und pflegt Prometheus die Menschengestalten, die er aus Lehm geformt hat, doch wünscht er sich mehr Nahrung, mehr Freude, mehr Weisheit und mehr Eigenständigkeit für sie. Also denkt er darüber nach, wie er dies für seine Geschöpfe wohl erreichen könnte. Da eilt ihm das Schicksal zu Hilfe. In seiner Angst vor Entmachtung verschlingt Zeus eine Meerjungfrau, die er vergewaltigt hatte, da ihm geweissagt wurde, dass dieses Kind, das er mit ihr gezeugt habe, den Himmel beherrschen würde. Zu der Zeit, da das Kind hat zur Welt kommen sollen, ruft er Prometheus zu Hilfe. Dieser trägt einen lunaren Anteil im Blut und verfügt somit über eine Doppelaxt, die als Werkzeug der Spaltung ein Symbol der dualen Mondnatur ist und sich deshalb gut als Geburtshelfer eignet. Mit jener Axt spaltet Prometheus den Kopf von Zeus, und heraus springt in voller Rüstung die Göttin Pallas Athene. Jener ungewöhnliche Geburtsvorgang schenkt dem Universum eine weibliche Gottheit, die zum Segen für alle Helden wird. Götter, Halbgötter und Helden kommen gleichermaßen in den Genuss ihrer Hilfe. Als verkörperte Weisheit erscheint sie überall dort, wo sie dringend gebraucht wird. Athene ist zwar ein weibliches Wesen, verfolgt jedoch gänzlich andere Interessen als sogenannte normale Frauen, denn ihr Augenmerk gilt ausschließlich der Verteilung echter Weisheit und der Bewahrung schöner Künste. Ihre Rüstung zeigt, dass sie bereit ist dafür zu kämpfen. Ihre begleitende Eule symbolisiert, dass sie in der Nacht, also auch im Dunkel der materiellen Welt, sehen kann. An den schwierigsten Scheidewegen (oder wo immer es mit der Weisheit gerade zu Ende zu gehen droht) erscheint Athene dem Verzweifelten und gibt ihm aus ihrem göttlichen Becher zu trinken, der jeweils so viel Weisheit enthält, wie gerade für den nächsten Schritt benötigt wird.
Es ist die göttliche Einsicht von Zeus selbst, die aus seinem Kopf in einer weiblichen Verkörperung heraussprang und nun dafür sorgen wird, dass auch die Menschen an dem Erkenntnis-Segen ungeteilter Einsicht teilhaben können. Pallas Athene macht sich selbst zum Gnadengeschenk an Prometheus, denn sie hilft ihm, seine Menschen lebendiger zu gestalten, indem sie den Geschöpfen einen Seelenfunken mit Verstand und Vernunft schenkt, die dann später im Herzen der Menschen von allein zu der höchsten Erkenntnisform heranreifen können. Es gibt ein altes Relief, auf dem Prometheus seine Menschen formt und Athene ihnen jeweils Schmetterlinge verabreicht. Wer denkt hier nicht sogleich an unser Gehirn, das in seiner Gestalt sehr einem Schmetterling ähnelt und aufgrund seiner Tätigkeit manchmal die Schmetterlinge der Seele bis in das Herzchakra hinein spüren lässt. Ist es nicht gut zu wissen, dass die alten Bilder doch gar nicht so weit weg von denen unserer neuen Forschungen liegen? – freilich sind sie allemal romantischer und dringen deshalb mühelos an dem Verstand vorbei bis in die Seele vor.
Dank Athenes Hilfe ist Prometheus in seinem Wunsch, das Leben der Menschen zu verbessern, deutlich weitergekommen. Seine Geschöpfe besitzen jetzt individuelle Wahrnehmungsfähigkeiten, und Prometheus möchte ihnen alles beibringen, was er selbst an Weisheit von Athene gelernt hat, jedoch spürt er schnell die Grenzen, da seine Menschen vorerst elementarere Probleme haben, weswegen sie die Mathematik, die Astronomie, die Architektur und die Musik noch nicht richtig verinnerlichen können. Denn zunächst fehlen ihnen Kraft und Begeisterung. Zeus steht dieser Tatsache gleichgültig gegenüber, ist also nicht gewillt ihren Hunger zu stillen. Die Menschen sind anfangs nicht sonderlich beliebt bei Zeus, denn er braucht sie eigentlich nicht, da er selbst nicht an der vermehrten Trennung von oben und unten interessiert ist. Dennoch ist Zeus selbst weise genug zu begreifen, dass mit Hilfe von Prometheus Himmel und Erde auseinandergezogen werden sollen. Zeus weiß, es wird bald neben den unsterblichen Göttern auch sterbliche Menschen mit einem Willen geben, die doch im Grunde nur Emanationen des Himmels sind und deshalb allesamt wieder zurück in sein Reich drängen werden. Als Vatergott weiß Zeus um diesen notwendigen Bewusstseinssturz seiner eigenen Schöpfungslust und dessen Wunsch zurückzukommen, getreu dem Leitspruch: Welten entstehen, Welten vergehen oder Götter atmen aus und atmen ein. Zeus sieht darin ein kosmisches Gesetz, dem er sich beugen muss, da auch er es nicht erschaffen hat. Denn Zeus ist nicht wirklich der erste Gott des Universums, insgeheim vergisst er dies nie – vor ihm gab es Kronos und noch davor zeugte die höchste Form aller Göttlichkeit des Werdens Beginn: Uranos! Aus diesem Wissen heraus muss Zeus den Heißsporn Prometheus gewähren lassen, wenn dieser von der Idee besessen ist, den Menschen ein götterähnliches Leben auf der Erde zu ermöglichen. Also erweckt Zeus sogar den Anschein, sich von dem altruistischen Titanen täuschen zu lassen.
Prometheus bittet Zeus, den Menschen den Verzehr von Fleisch zu erlauben. Er ködert Zeus, indem er diesem glaubhaft versichert, die Menschen würden die Nahrung jeweils durch eine Opfergabe mit ihm teilen. Auf diese Weise hätte er auch etwas von dem Schlachten der Tiere, meint Prometheus in seiner List. Zeus willigt ein, und das Opfer der Menschen an die Götter ist besiegelt. Das Spaltungswerk des Prometheus macht gewaltige Fortschritte: Neben das mystische Wort Ganzheit stellt er jetzt deutlich die Magie des Wortes Teilung, dessen unterscheidende Natur sich von nun an mehr und mehr zwischen Göttern und Menschen vollziehen wird.
Um nun die genauen Anteile des Fleischverzehrs auf der einen Seite und die Opfergaben auf der anderen zu bestimmen, errichtet Prometheus in betrügerischer Schlauheit zwei völlig ungleiche Haufen eines zerlegten Stieres vor Zeus. Der eine Haufen besteht aus dem guten Fleisch und den nahrhaften Eingeweiden, zugedeckt mit dem Magen des Schlachttieres. Der andere mit glänzendem Fett abgedeckte Haufen aber birgt ausschließlich die weißen ausgelösten Knochen. Hesiod lässt nun Prometheus die hinterlistigen Worte sprechen: Zeus, ruhmvollster und größter der ewiggeborenen Götter, wähle aus, wozu dich der Sinn im Innersten treibt! Prometheus hat von Athene viel gelernt, denn bei der Herstellung der beiden betrügerischen Haufen wendet er analoges Wissen an. Natürlich muss Zeus als Jupiter-Urprinzip den Haufen mit dem speckigen Fett wählen und dem Menschenvolk jenen mit dem Magen überlassen, welcher die Mondnatur verkörpert. Zeus durchschaut in seiner ewiglich wachen Weisheit das tückische Spiel, jedoch lässt er Prometheus in dem Glauben, ihn, den olympischen Machthaber, überlistet zu haben. Denn Prometheus schlägt einen Heldenweg ein, und dazu gehört am Anfang unbedingt die Überhebung über das Göttliche – die Hybris.
Prometheus vollzieht den notwendigen Schritt der Empörung gegen Gott, der allein in die Selbstverantwortung und das freiwillige Tragen von Konsequenzen führt. Erst wenn ein Hinaufrecken der Arme und das mit gespreizten Beinen im Pentagramm stehende Selbstwertgefühl der Magie erfahren wird, wenn die leidgeschwängerte Hybris erwacht ist, kann wahrhaftig von dem langwierigen Gärungsprozess einer beginnenden Menschwerdung die Rede sein. Alle Exerzitien, die noch vor der Bewältigung dieses übernatürlichen Aktes stattfinden, bleiben kleine Sandkastenspiele abhängiger Menschenkinder, die kein Gott des Kosmos von dem Rad des Schicksals zu befreien vermag, denn die dazu erforderliche Reifung hat noch nicht stattgefunden.
Prometheus arbeitet immer intensiver an dem Mysterium Lernen durch Leid, das ihm später die reinste Agape zu seinem Gott bescheren wird, die er im Moment noch nicht fühlen kann. Als Sohn einer Nymphe muss er sich erst ganz von dem Zepter Gottes gelöst haben, bevor er sich im Gesetz des Himmels wieder einbinden kann. Darin liegt das größte Geheimnis menschlicher Entwicklung, das es in dem Mythos von Prometheus zu verstehen gilt:
„Ohne Sturz keinen Aufstieg!
Ohne Tiefenabstieg keine Höhenbesteigung!“
Nehmen wir darum die Jahrtausende alte Herausforderung ruhig einmal an und sehen wir, was weiter geschieht mit dem eigensinnigen Titanen, der einst in jedem von uns erwachen möchte. Als Zeus den Fetthaufen mit den Knochen für sich als Opfergabe gewählt hat, nimmt er das Fett hoch und sieht darunter die weißen Knochen liegen. In Anbetracht des listigen Betruges wird er Prometheus gegenüber sehr zornig und zeigt damit an, dass er dessen freien Willen akzeptiert und der Selbstentfaltung des selbstherrlichen Sprosses nicht im Wege stehen wird. Das ist eine edelmütige Geste des Göttervaters, die sich respektvoll an den erwachsenen Prometheus richtet. Nur einem Kind verzeiht man alles, denn es weiß nichts von Arglist und Betrug. Das Kind ist aus der Blickrichtung der Selbsterkenntnis unbedacht wie Epimetheus und wird folglich nicht direkt und hart zur Rechenschaft gezogen, sondern vorerst einmal von den sogenannten Schicksalsmächten, man könnte auch sagen, von Gott erzogen („Er“ zieht zu sich). Zeus akzeptiert Prometheus als Erwachsenen und sieht ihn damit auch kritikwürdig, weswegen ihn der grollende Zorn des Gottes unmittelbar trifft. Zeus nimmt die trockenen weißen Knochen als Opfergabe von den Menschen an und überlässt ihnen das nahrhafte Fleisch als aufbauende Nahrung. Mit Hilfe dieser wertvollen Kost wird die Menschheit wachsen können und als starkes Geschlecht eines Tages die Erde bevölkern. Zeus kennt die Notwendigkeit dieses Vorgangs und stellt sich nur scheinbar dagegen, um dem heroischen Leben des Prometheus eine heiligende, mystisch verankerte Echtheit zu verleihen. Mit seiner Annahme der List macht Zeus den Weg frei für den Abstieg und den darauf folgenden Aufstieg des Titanen. Den Wegen des Prometheus folgt dann auch der Mensch nach. Aber das Werk dieser opferbereiten und starken Seelenpersönlichkeit hat gerade erst begonnen. Unvorstellbar groß und übernatürlich erhaben werden die geistigen Leiden des Halbgottes sein, mit denen er sich die volle Gotteszugehörigkeit erringen wird. Prometheus errang die lebensnotwendige Nahrung für seine Menschenschöpfungen, doch genügt ihm jetzt auch das noch nicht. Er will mehr. Er will alles! Auch das göttliche Feuer. Und er wird es den Göttern mit Macht entreißen!
„Mit einem Wort erfahre alles.
In eins gefasst: Was Menschen wissen, von Prometheus haben sie es!“
– Aischylos –
Diese Worte charakterisieren das Empörungswerk des Titanen. Alle Schöpfungsmythen berichten von mehreren Etappen der menschlichen Werdung. Analog zu dem ersten biblischen Adam, der als rein männliches Wesen in göttlicher Einheit ruht und seine zweite Hälfte noch als mit ihm verbundene unschuldige kosmische Lilie (Lilith) in sich verschlossen hält, kennt auch die antike Religion der Griechen die Vorstellung eines sogenannten goldenen Menschengeschlechtes, das in paradiesischer Einheit mit den Göttern lebte. Doch war dies zu Zeiten, in denen die alten Götter Uranos, Gaja und Kronos noch uneingeschränkte Macht besaßen. Als jedoch dieses Göttergeschlecht entmachtet wurde, begann die olympische Allmacht von Zeus, und ein ehernes Menschengeschlecht rückte auf den Plan des Universums.
Prometheus stellt jene demiurgische Kraft dar, welche die Menschen von den Göttern abspalten muss. Prometheus fühlt in sich den gewaltigen Drang, dem zeusischen Willen die Achtung zu verweigern. Und koste es ihn was es wolle: Prometheus bringt den Mut auf, sich gegen die Allmacht des olympischen Gottes zu stellen. Prometheus ist der Ur-Empörer aller Wesen, der Nein-Sager, der eigenmächtige Ich-Erbauer. Jeder Mensch muss irgendwann auf seiner langen Wanderung durch die Zeiträume der Seele diesen kühnen Prometheus in sich entdecken und die Himmel bezwingen. Danach erst kann er sich am Ende seines Bewusstwerdungsweges aufrichtig und liebevoll in die Ordnung der Hierarchie einfügen. Wehe dem, der Letzteres zu früh versucht und sich wimmernd im Staube wälzt, der graugesichtig alles kommentarlos erduldet, was ihm eigentlich zuwider ist, bevor er seine Selbstfindung abgeschlossen hat. Eine ähnliche Haltung lehrt aber falschverstandene Esoterik in unserer Gegenwart. Und hier wurzelt einer der tausend guten Gründe, weshalb diese Lehre ursprünglich immer geheim war, also nicht jedem offenbart wurde. Denn solche Forderungen wie „das Ich opfern“ und „egolos handeln“ gehören an den Schluss des Weges. An seinem Beginn wirken Toleranz, süßliche Brüderlichkeit und allzeit verzeihende Liebe, die nicht auf dem Einweihungsweg zur Anwendung kommen, sondern in alltägliche Belange gebracht werden, zwingend verpolt, kränklich und lächerlich, da sie einem gewaltigen Selbsttäuschungsprogramm entspringen. Wer seine spirituelle Entwicklung zu früh zur Schau stellt und sich mit imitierten Demutslorbeeren schmückt, die er noch gar nicht erlitten hat, wird sehr schnell zu einer mystifizierten Karikatur, denn im Innern knurrt, weithin hörbar, ein egozentrischer, machtbesessener Wolfshund, während sich außen eine falsche Viper durch das von Frömmigkeit triefende Dasein schlängelt. Jeder andere sieht und fühlt dies sehr schnell, und der in dieser Art Agierende spielt sich ausschließlich selbst eine Komödie vor, seine Mitmenschen hingegen täuscht er nicht. Denn sie weichen ihm instinktiv aus, da Unaufrichtigkeit immer unsympathisch wirkt. Bei einem solchen Menschen ist die Gussform wahrer Menschwerdung leider zu früh zerbrochen, und der arglistige, hybride Prometheus könnte zu einem heilenden Mantra für das kranke Ego werden. Prometheus wird seinen Rücken wieder aufrichten, seinen unsteten Blick beruhigen, seine Gedanken klären und sein Egogold polieren, damit daraus dann ein strahlendes Selbst hervorgeht.
Erst wenn die höchste Form der irdischen Verkörperung erreicht ist, erlangt der Mensch eine gewisse Meisterschaft, die ihn berechtigt, dem Himmel gegenüber demütig, tolerant und willfährig zu sein. Dann erst haben sich die Lichter verstellt: Er wirkt außen stark, belastbar, unantastbar. Aber in seinem Herzen fließen die Ströme verzeihender Wasser und liebenden Blutes. Vor jeder authentisch verwirklichten Demut eines Eingeweihten steht die Empörung von Prometheus. Kennzeichnend für den Erfolg dieses Aktes ist eine ehrlich demonstrierte Autorität zugunsten von Erkenntnis und Gottesfeuer.
Die promethische Fleischnahrung
Prometheus reckt sich. Er stellt sich gegen die Herrschaft von Zeus und verlangt ausgerechnet das Blut in der Fleischnahrung für seine Menschen. Warum sorgt er nicht für Blumenkohl, Möhren und Petersilie? Würden die Menschen davon nicht auch satt werden? Nein! Blut muss es sein! Aber warum? Jeder überzeugter Vegetarier, der sich im keuschen Heiligenschein einer braven Gemüseplatte von der Erbsünde seiner Existenz freikaufen möchte, könnte hier eine abwertende oder anklagende Miene aufsetzen. Doch empfiehlt es sich, an dieser Stelle einmal den Symbolcharakter einer blutigen Nahrung zu betrachten, bevor man sich vorschnell in eine Ideologie verrennt, die zwar hübsch, anständig und sauber ist, jedoch nicht an den Beginn einer dynamisch zubeißenden Menschwerdung gehört, sondern eher an das zahnlose, milde Ende davon. Was besitzt denn das Blut als besonderer Saft, was Himbeersaft nicht hat? Die einfachste Antwort lautet: Blut ist Gottesfeuer. Gottesfeuer ist Initialzündung und übernatürliche Macht. Ohne warmes, fließendes Blut gibt es kein menschliches Leben. Vor allem Herzblut gilt als synonymer Inbegriff vollbewussten Seins. Mit dem Symbol einer Fleischnahrung schenkt Prometheus seinen Lehmkindern nicht nur körperliches Leben, sondern einen stetig sich neu vitalisierenden Kraftstrom. Bereits in dieser Tat gibt er ihnen die manifestierte Form von Feuer, um sie aus dem Reich neptunischer Einheit durch den Frühlingspunkt des Tierkreises zu schleusen. Im Widder fließt nun einmal Blut, und in der Tat gibt es bei den säugenden Lebewesen, die dem Menschen am nächsten stehen, auch keinen einzigen Geburtsprozess ohne Blut. Blut begleitet den Wechsel von Nichtsein zu Sein. Blut dient auch der unsichtbaren Seele als Material, um einen Körper aufzubauen. Das Wort Blut findet sich auch in dem Wort Blüte wieder, denn jedes Werden, jedes Blühen stellt einen feurigen Impuls dar. So wird die monatliche Blutung der Frau auch als Vorgang des Blühens (floridatas) bezeichnet, was sehr gut den analogen Zusammenhang des marsischen Prinzips mit dem Akt des Aufblühens beschreibt. Wer Fleisch verzehrt, reißt die impulsive Lebenskraft an sich, er drängt spürbar in das reale energetische Leben hinein wie ein Rammbock in die Festung. Lehnt jemand Fleisch ab, befindet er sich bereits auf dem Rückzug von der Immanenz und wünscht sich eigentlich, möglichst bald in die Transzendenz zu gelangen, wo keine körperliche Lebendigkeit mehr die Herrlichkeit seiner Gedanken einengen kann. Die Menschen des Prometheus stehen aber noch am Anfang ihrer Existenz. Mit dem Verzehr von Fleisch will Prometheus für seine Geschöpfe erst einmal das aktive Lebendigsein erwirken. Er will ihnen die eigene Durchsetzung, den eigenen Willen und die Handlungsfähigkeit sichern.
Die himmlische Fackel des Prometheus
Als sein Betrug bei Zeus gelang, bekamen die Menschen das Fleisch. Jetzt haben sie es, doch seine vorausdenkende Taktik fand bislang noch keine planmäßige Erfüllung. In seiner Hinterlist war das Opfer der weißen Knochen enthalten, die zu Ehren von Zeus auf dem Altar im Reich der Menschen verbrannt werden sollten. Die Berechnung des Titanen zielte darauf ab, dass Zeus wegen des versprochenen Opfers gar nicht umhin könne, mit dem Fleisch auch das himmlische Feuer herzugeben, wie anders sollten die Opferaltäre in Brand gesetzt werden?! Doch Zeus macht es Prometheus nicht ganz so leicht, wie es dieser geplant hat, denn er zürnt ihm heftig und verweigert ihm strikt das Feuer. Aber ohne Feuer nützt das Fleisch den Menschen zu wenig. Wenn sie es roh verzehren müssen, bleiben sie auf der ungezügelten Stufe des Widders stehen und gelangen nicht in das von innen heraus glühende Selbstwertgefühl des Löwen, geschweige denn in die Erkenntnismetaphysik des Schütze-Prinzips.
Prometheus weiß, nur das Feuer würde seine Geschöpfe eines Tages selbst zu unsterblichen Göttern erheben. Nur mit dem Feuer der umfassenden Einsicht kann sich das Bündnis Gott und Mensch im Kreis von Involution und Evolution schließen. Das Feuer allein gibt dem Menschen die ewige Lampe, und nur in ihrem Brennen liegt die Verheißung auf die Unsterblichkeit ihrer Seele. Prometheus hat also gar keine andere Wahl, er muss sich gewaltsam des lodernden Himmelsfeuers bemächtigen, da er sonst seiner Aufgabe als Weltenspalter und Weltenversöhner nicht vollständig gerecht wird. Das Element Erde besitzen die Menschen mit dem Lehm, aus dem sie geformt wurden. Wasser und Luft gab ihnen Athene, als sie die Geschöpfe beseelte und sie mit Verstand versorgte. Was fehlt ist ein Feuer, das sie jederzeit selbst entfachen können. Also lädt Prometheus in vollem Bewusstsein weitere Schuld auf sich, indem er sich in die Domäne der höchsten Kompetenz des Weltalls hinaufschwingt, um dort das Feuer zu stehlen. Unter Aufbietung seiner Heldenkraft dringt Prometheus bis zu der Sonne empor und entzündet eine Fackel an dem brennenden Sonnenrad.
Damit diese heilige Flamme nicht verlöschen möge, verwahrt er sie in dem Rohr einer Pflanze und kehrt eilends mit dieser Fackel zurück zu seinen geliebten Menschen. Euphorisch und überglücklich legt er den Geschöpfen das Feuer der Unsterblichkeit zu Füßen. Die Menschen nehmen das Geschenk des Titanen erfreut entgegen und erhellen von diesem Augenblick an für alle Zeiten ihr Leben mit dem Licht solaren Bewusstseins, sie werden aktiv, kreativ, erkennend und können sich begeistern. Mit diesem Feuer von Oben erhielten sie eine immerwährende Sehnsucht nach Rückbindung an den Himmel. Dies ist in letzter Konsequenz religio, Religion, sakrale Handlung: KULT! Niemals mehr kann die Fackel des Prometheus auf Erden verlöschen, sie begleitet noch heute den religiösen Menschen als rituelle Flamme in Taufkerzen, Kommunionkerzen, Brautkerzen und Sterbekerzen. Dereinst soll die Flamme lodern als ein alles überstrahlendes Licht der Auferstehung von den Toten. Der Mensch wird das Feuer in seinem Herzen bis zu der höchsten strahlenden Illumination empor tragen und immer daran denken, die weißen Knochen für Zeus auf den Altären zu verbrennen. Jeder Weihrauchkegel, jedes Räucherstäbchen oder jede Planetenräucherung trägt tief in sich verborgen die uralte Geschichte von Prometheus, die in leicht abgewandelter Form in allen Kulturkreisen der Erde zu finden ist. Der Rauch steigt wieder und wieder als Dankesopfer von den irdischen Altären auf und wird zum Bittgesuch an die kosmischen Mächte. Wie die der duftende Rauch gen Himmel steigt, sollen auch die Menschen empor gezogen werden zu den Sternen.
Prometheus hat sich durch den Feuerraub von Zeus abgesondert obwohl er als Halbtitan den Olymp beanspruchen könnte. Doch seine Mutter, die Nymphe, verwässerte gewissermaßen sein um die Einheit kreisendes Titanenblut, weshalb er keine Lust verspürte, ein Leben lang in dem ungeteilten Geistkonzept des olympischen Götterpantheons zu verweilen. Sein Ganzheitsempfinden leidet an einem Bruch und sehnt sich nach Spaltung. Prometheus wird damit zu dem Begründer eines irdischen Gegenreiches. Er hofft, durch diese Handlung die Allmacht des olympischen Zeus zu brechen und seine Ahnen, die Titanen, aus den Tartaros befreien zu können. Doch zunächst sind es weibliche, Struktur schaffende Themen, die für eine materielle Schöpfung notwendig sind: Absonderung, Zweifel, Zwist, Zwietracht, Vermehrung, Trennung und Individuation sind deren Früchte. In diesem Sinne erkennt Zeus in Prometheus das Werkzeug seiner eigenen göttlichen Schöpfungslust, das dem kosmischen Rhythmus zu Diensten steht. Um es zynisch auszudrücken: Prometheus wird durch seinen hybriden Dünkel- ähnlich wie Luzifer, der Lichtträger – zum dienstbaren Handlanger Gottes, anfänglich freilich, ohne die Absurdität seines Hochmutes zu begreifen. Jedoch aus der erhabenen Perspektive eines Vaters durchschaut Zeus den arglistigen Taktiker von Anfang an und liebt ihn gerade für sein dreistes Handeln. Zeus lässt Prometheus bewusst den ganzen Weg gehen und erleiden. Damit schenkt er dem Halbtitanen die Möglichkeit zu jener Entwicklung, derer Prometheus bedarf, um seine lunare, erdhafte, die Spaltung fördernde weibliche Komponente zu überwinden. Diese Zusammenhänge machen deutlich: Prometheus, das ist der Archetyp des nach Erlösung strebenden Menschen! Prometheus fühlt sich seinen Menschenschöpfungen verpflichtet und lehrt sie alles, was sie für ihr Leben brauchen : den Ackerbau, das Zähmen der Tiere, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und die Freiheit der Wahl. Vollkommene Bewusstheit werden die Menschen aufgrund des himmlischen Feuers, das auf Erden lodert, erlangen können, soviel ist gewiss. Denn aufgrund der zweiten Feuerstelle im Irdischen verfügen auch sie selbst über einen freien Willen wie die Götter. Doch bedingen diese Qualitäten erdwärts gerichtet auch das Spüren jener Fesseln, die in der Schuld der Absonderung von der Ganzheit begründet sind.
Aus der Sicht der Menschen ist Prometheus zu Anfang ein Wohltäter, denn sie wissen vorerst nicht um den Zusammenhang von Erkenntnis und Leid. Aber aus der Sicht der göttlichen Harmonie beschwor er reichlich Unruhe herauf. Denn er schuf ein irdisches Geschlecht, das seine Existenz nur dann überwinden kann, wenn es den Trennungsschmerz von Himmel und Erde, Sonne und Mond, Einheit und Polarität in sich selbst erleidet und sich wieder nach der Einheit sehnt. So wird Prometheus zu einem Täter in den Gesetzen der Polarität, also zu dem, der den Schmerz innerhalb der Raum- und Zeitachse bewusst macht. Und damit ist er ein großer Leidbringer, denn seine Menschen werden die schmerzhafte Spannung zwischen Licht und Finsternis erfahren müssen.
Die Büchse der Pandora, die eigentlich eine Amphore war
Der Mythos zeigt deutlich, dass Prometheus selbst ebenfalls gespalten ist, denn er besitzt einen Bruder, der als Epimetheus den Schatten seiner fördernden Absichten trägt. Epimetheus dient deshalb als Werkzeug, Leid und Mühsal unter die Menschen zu bringen. Die Menschenschöpfungen von Prometheus sind zuerst rein männlicher Natur und leben untereinander in Frieden. Aber Zeus erfindet das Weib und schickt es als ausweglose Falle auf die Erde, um in das irdische Geschlecht Unheil zu bringen. Zeus lässt von Hephaistos eine wunderschöne Frauengestalt aus Ton anfertigen und bittet alle Götter des Pantheons, diese mit verführerischen Reizen auszustatten. Vor allem die Gemahlin des Hephaistos, Aphrodite, haucht viel Schönes über das Kunstwerk.
„Da gebe ich ein Übel, dessen sich alle sollen erfreuen und liebend umarmen ihr eigenes Verderben!
Also sprach und lachte auf der Vater der Menschen und der Götter.“
– Hesiod –
Als die Frau fertig gestellt und beseelt ist, wird dieser feminine Prototyp auf die Erde entsandt. Damit er die Arglist des schlauen Prometheus ausschließen kann, erwählt Zeus dessen dummen Bruder Epimetheus als Empfänger seiner Gabe. Prometheus, der Vorausdenker, warnte einst Epimetheus, den erst im Nachhinein-Denkenden, nachdrücklich davor, Geschenke von Zeus entgegenzunehmen. Doch Epimetheus bildet die Schattenmanifestation des souveränen Bruders und handelt grundsätzlich unbedacht. Als er die wunderschöne Frauengestalt erblickt, heiratet er sie sofort, ohne sich genauer zu vergewissern, wer sie ist und wo sie herkommt. Um so überraschter muss Epimetheus natürlich sein, als er gewahr wird, welch abscheulicher Art die Mitgift seiner Gemahlin ist. Aber jede Reue kommt zu spät, die Frau kehrt in das Leben der Menschen ein. Diese erste Frau heißt Pandora, was soviel bedeutet wie „die alles schenkt“. Auch hierin liegt ein gewisser Zynismus, denkt doch der Mensch bei dem Wort „Geschenk“ grundsätzlich an etwas Angenehmes. Die Gaben der Pandora werden freilich anderer Natur sein. Denn Pandora bringt eine Amphore mit, das alle sogenannten Übel der Welt enthält. Als sie nämlich die Büchse der Pandora öffnet, fallen solche Dinge wie Sorge, Unglück, Mühsal, Verzicht, Kälte, Härte, Ohnmacht, Strenge, Schmerz, Geiz, Neid, Hass und Streit heraus und verbreiten sich rasch auf der Erde wie eine böse Krankheit. Der Mythos hat sich damit der schwierigen Aufgabe angenommen, ein allgemeines archetypisches Problem radikal in eine deutliche Bildsprache zu übersetzen. Denn leise und betroffen müssen wir nun fragen: Ist das Weibliche böse?
In unserer Zeit haben wir Probleme, die antike Symbolsprache zu verstehen. Vor allem dann, wenn sie Themen berührt, die unsere Kultur völlig anders interpretiert. Wir haben uns ein Trugbild des Weiblichen aufgebaut, das sich ethnologisch nicht aufrecht erhalten lässt. Die archetypische Signatur stellen wir gerne als friedfertig, sanft und liebevoll dar. Frühere Kulturen sahen dies ganz anders. Die Große Mutter besaß stets zwei Gesichter. Sie galt als lebensspendend einerseits, aber vernichtend und rachsüchtig andererseits. Die babylonische Ishtar, die sumerische Inanna, die semitische Astarte, die keltische Andrata, die griechische Demeter und auch die germanische Freya alle verfügen über sehr grausame Züge. Als herrschsüchtige Ernährerinnen und gnadenlose Zerstörerinnen kennen sie keine Barmherzigkeit. Bedenkt man noch, dass es schon viel häufiger ein ehrliches, bewusst ausgelebtes Matriarchat gegeben hat, als ein vermeintliches Patriarchat, so kommen leise Zweifel an der Sanftheit und Hingabefähigkeit jenes so oft als bessere Hälfte zitierten Anteils der Menschheit. Schaut man sich die Strukturen einer Kultur einmal genau an, in der die Frauen nach Herzenslust geherrscht haben, so findet man tatsächlich nirgendwo eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Das Männliche wurde sichtbar vordergründig versklavt, unterdrückt, misshandelt und zerstückelt. Die berüchtigten Amazonen bildeten keine Ausnahme in der Menschheitsgeschichte, und bei genauerer Untersuchung stellt sich heraus: Die Frauen waren nicht nur immer schon stärker, sie waren auch rücksichtsloser als die Männer. So entstanden im Laufe der Zeit unzählige Mutter- und Fruchtbarkeitskulte, die mit besessenem Eifer dem Materialismus frönten, ohne jemals zu erfassen, dass das Ziel der Menschheit ja gerade in der Überwindung des lllusionsgewebes liegt. Um sich aus den Fesseln der saugenden Fangarme zu retten, tun die Männer dann so, als lebten sie in einem Patriarchat und unterdrücken die Frauen. Jedoch bei Licht betrachtet herrscht auf Erden immerzu das dichteste Matriarchat, ein echtes Patriarchat ist nur im Himmel bzw. in der Religion vorstellbar, niemals im Alltäglichen. Der Kampf der Geschlechter war und bleibt ein erbitterter Kampf und scheint hoffnungslos in seiner Ausweglosigkeit zu sein. Wer aber Lust hat, tiefere Einblicke in das Geschehen zu nehmen, der sollte sich trauen, die alten Mythen wieder verstehen zu lernen. In der Geschichte der Pandora wird etwas Elementares transportiert, das ein großes Heilungspotential für einen kranken Materialismus eröffnen kann. Denn diese Mythologeme sind nicht alt und überholt, wie viele meinen, sie sind zeitlos, einweihend und eröffnen den Blick in das Geheimnis des Daseins; sie wurzeln im Gewesensein, in den Anfängen der Menschwerdung, und wer nicht dorthin zurückgeht, kommt nicht an das Ende davon. Er bleibt mitten auf seinem Wege stehen und prügelt sich von Animus zu Anima (und wieder retour) oder schimpft auf die Politiker, die Industrie, die Wettervorhersage und überhaupt auf die äußeren Umstände.
Wer aus diesem uralten Spiel der Projektionen aussteigen möchte, tut gut daran, sich mit dem Gefäß der Pandora auseinander zu setzen. Wenn er nämlich sehen lernt, dass die Spannung zwischen Himmel und Erde der Welt den Bestand gibt, kann er auch die „Geschenke“ der Pandora als notwendiges Übel jener Spannung begreifen. Dann findet derjenige vielleicht das wichtigste Kleinod, das in dieser Amphore verborgen liegt und von Pandora zunächst nicht auf die Erde geschüttet wurde. Der Mensch muss dieses Ding selbst suchen und finden, niemand kann ihm diese Arbeit abnehmen. Manche sagen, es sei die Hoffnung. Aber was wäre die Hoffnung ohne Läuterung der Absicht? Die Hoffnung auf Erlösung, auf Überwindung der Zweiheit, auf das Wiedererlangen der Einheit, das ist die einzige Form von Hoffnung die Sinn macht. Aber diese wahre Hoffnung wächst nicht auf dem unbewussten Hinnehmen von Leid, sie entsteht vielmehr auf dem Verständnis der beiden grundlegenden Forderungen des Menschseins: Durch Leidensdruck höchste Läuterung zu begehren und den Lebenssinn ganz und gar auf den Himmel auszurichten! Durch eine Erhebung der Seele verkehrt sich alle pandorische Untugend wieder in göttliches Heil. Zweifel wird Zuversicht. Habgier wird Großzügigkeit. Eitelkeit wird Schönheit. Angst wird Mut. Neid wird Gunst. Hochmut wird Erhabenheit. Herzenskälte wird Liebe. Zerstörung wird Aufbau. Täuschung wird Wahrheit.
Johann Wolfgang von Goethe und sein Erkenntnisweg von Werther bis Prometheus
Bevor der Mensch dies nicht verwirklicht hat, bleibt ihm das Geheimnis in Pandoras Amphore verborgen, und er muss wie Goethe das Mysterium des Prometheus durchleben.
„Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig.
Das alte Titanengewand schnitt ich nach meinem Wuchse zu.“
– J.W. von Goethe –
Diese wenigen Worte Goethes offenbaren den ergreifenden Sinn der gesamten Mythologie. Die alten Mythen haben die Kraft, den Menschen anzusprechen, wie Goethe von Prometheus angesprochen wurde. Der Dichter des Neunzehnten Jahrhunderts griff mit seinem ringenden und beflügelten Geist die innere Struktur der Prometheus-Legende auf, drang in die Geheimkammern der antiken Mythenverfasser ein und verstand die magische Botschaft. Goethe hatte im Alter von siebenundzwanzig Jahren Die Leiden des jungen Werther beendet. In diesem Werk beschreibt er noch einen Menschen, der an den leidbringenden Herausforderungen der konkreten „Frau Welt“ scheitert und nicht bereit ist, „das gemeinsame Menschenschicksal, an dem wir alle zu tragen haben“ auf sich zu nehmen und es vorzieht, in den Selbstmord zu flüchten. Bis den Dichter schließlich das wallende, seinem Wuchse zugeschnittene Titanengewand mit einem weitaus erwachseneren Thema umwehte. Prometheus eröffnete Goethe die Perspektive zu menschlicher Verantwortung und himmlischer Verpflichtung. Das ist das Ziel aller Religion! Goethe sah in dem kühnen Halbgott bereits seinen eigenen Feuer entfachenden Auftrag, der später in der Figur des Faustus den deutlichsten Ausdruck findet. Goethe wurde schon in jungen Jahren eins mit Prometheus, und er durchlitt diesen Mythos dann ein Leben lang. Denn auch Goethe holte Feuer für die Menschen vom Himmel, und Zeus sparte nicht mit den Züchtigungen, die stets den Mutigen treffen, den die Götter lieben und mit Macht zu sich ziehen. An dem Beispiel des Dichterlebens sehen wir: Mythen schwingen in einer höheren Dimension und reichen mit ihren starken Armen so weit hinunter, dass der Mensch sie ganz umklammern kann, um sich von ihnen erheben zu lassen. Es macht überhaupt keinen Sinn, umgekehrt vorzugehen, nämlich die grandiosen Mythologeme in eine winzige Diesseitigkeit hinein zu übersetzen und sie völlig unergriffen in den Dienst einer gewöhnlichen Alltäglichkeit zu stellen. Ein überlieferter griechischer Mythos will Religion bleiben, also den Zusammenhang zwischen Gott und Mensch klarstellen und den Weg zur Vergottung des Menschen aufzeigen.
Prometheus konnte die Menschenwelt nur mit Hilfe des Dualitätsgesetzes errichten. Darin verbirgt sich ein Gesetz, welches besagt, dass auch der allerkleinste Schritt in die Spaltung ein Vektor ist, der von dem Mittelpunkt der Einheit an die Peripherie der Vielheit zieht. Diese Bewegung bringt es dann jedoch zwingend mit sich, dass der lange archetypische Weg der Werdung vollends durchschritten werden muss. Es ist der Weg aus der Ganzheit in die Vielheit und wieder zurück in die Ganzheit. Niemals kann die Schöpfung auf halbem Wege umkehren, sie bedarf ganz und gar der Verwicklung in dem dunkelsten Aspekt der Stofflichkeit, damit der gegenpolare Schritt in die Entwicklung getan werden kann. Berücksichtigt man diese Gesetzmäßigkeit, dann hat Prometheus nicht nur die angenehmen Seiten des Lebens unter seine Menschen gebracht, sondern auch das Spannungsleid der Welt, welches ein notwendiges Unterpfand der Absonderung von der Ganzheit darstellt. Freilich ist sich Prometheus vorerst nicht im Klaren darüber, dass sein Bruder Epimetheus seine eigene irdische Schattenmanifestation verkörpert. Der dumme Bruder wird zu einer Projektionsfläche von Prometheus, und das macht ihn, ohne es auch nur zu ahnen, selbst dumm. Da er selbst glaubt, schlau und bedacht zu handeln, wandert der blöde und unbedacht Handelnde als dunkler Bruder, abgespalten von der Selbsterkenntnis des Prometheus, über die Erde und ruft mit seiner Heirat der Pandora die unangenehmen Dinge auf den Plan.
Nun muss Prometheus lernen, was seine Menschen auch eines Tage lernen müssen: Die Trennung von Prometheus und Epimetheus existiert nur scheinbar. Solange, wie Prometheus die Unbedachtheit nicht auch in sich selbst entdecken kann, verstrickt er sich in seinem eigenen Netz aus Halbheit und Hochmut. Erst wenn er die Verantwortung für die Handlungen des Bruders ebenfalls übernommen haben wird, kann Prometheus in seiner heiligen Wahrheit ankommen. Darin spiegelt Prometheus die Grundnatur des Menschen wider. In seiner Wesensnatur begegnen wir dem Ursprung aller Empirik. Prometheus richtet sich gegen Zeus und hält sich in der ersten Hälfte seiner Existenz absolut für den Gewinner. In seiner Sturm- und Drangzeit glaubt Prometheus fest an seine eigene Überlegenheit. Er besitzt sogar Beweise dafür, denn mit schlauer Hinterlist gelang es ihm, Zeus in vielen Punkten zu übervorteilen. Das ist in Ordnung, denn nur so kann sich der Weg der Absonderung vollziehen. Der Mensch muss zunächst die göttliche Ordnung in Frage stellen und versuchen, seine eigene zu errichten, anders wird er dem Auftrag, sich die Erde untertan zu machen, nicht gerecht werden können.
Ohnmacht und Schmerz als Ausgleich für Macht und Empörung
Zeus verkörpert das Einheitsprinzip und hält damit selbst die göttliche Ordnung des Universums aufrecht. Er kann sich also gar nicht gegen sein eigenes Gesetz stellen und hat Prometheus anfänglich sogar dabei zu helfen sich zu verwickeln. Also spielt Zeus das Lila des Seins mit und beobachtet innerlich gelassen, wie Prometheus seinen Abstieg erlebt. Zeus liebt und achtet Prometheus, denn er sieht in ihm „den sich vom Vater befreienden Sohn“ und weiß, dass dieser sich am Ende seines Weges auf dem Olymp einfinden wird.
Prometheus lebt in der Gnade des freien Willens und fühlt sich unbändig stark und mutig wie ein Tiger. Doch wer sich ungezügelt der Handlungsfreiheit bedient und sich über die vorgegebenen Grenzen kosmischer Gesetze hinwegsetzt, darf nicht überrascht sein, wenn sein Übermut eines Tages das Einlösen ausgleichender Konsequenzen fordert. Es ist schön, schlau und geschickt zu sein. Es ist schön, stark und überlegen zu sein. Es ist auch sehr schön, über eine derart geheimnisvolle Macht zu verfügen, dass man den Göttern wirklich das Feuer entreißen kann, um es in Millionen leuchtender Flämmchen über die dunkle Erde zu werfen. Innerhalb der polaren Welt wird jedoch der Gegenpol von all den „schönen Dingen“ als Preis entrichtet. Das merkt man lange nicht, bis eines Tages die Ohnmacht in das Leben des Menschen einzieht. So hören wir auch von Prometheus, dass er zunächst die Gegenbewegung zur Macht als Ohnmacht erfährt, bevor er zu wahrer innerer Demut gelangt. Zeus ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass Prometheus die Erhebung über die göttliche Ordnung nicht unendlich fortsetzen kann. Deshalb gleicht Zeus nun diese Pole für Prometheus aus. Der Göttervater spart nicht mit Härte und lässt Prometheus an einen Felsen im Kaukasus schmieden. Hier soll er dreißigtausend Jahre hoch oben in der Bergwildnis über schauerlichem Abgrund an unzerreißbaren Ketten hängen. Und damit die Schmerzen auch wirklich nicht zu wenig werden können, wird noch ein Pfahl durch seine Leibesmitte getrieben. Um selbst diese Qual noch zu verstärken, fliegt täglich ein Adler herbei und frisst ein wenig von der Leber des Titanensohnes. Und des Nachts wächst die Leber wieder nach.
Bestimmt mag es Prometheus in seinen verborgenen Bewusstseinskammern durchaus noch wissen, dass dieser ausgleichende Zustand notwendig ist, um sein erhabenes Titanen-Dasein zurückzuerlangen, aber sein äußeres Ich rebelliert und projiziert die Schuld zunächst nur auf Zeus. Bei Aischylos schimpft der gefesselte Prometheus:
„Seht an, was ich von Göttern leide, selbst ein Gott!
Derlei hat der Seligen neuer Herr wider mich erdacht, der Ketten Schmach.
O weh! Das jetzige, das künftige Leid macht mich gleichermaßen stöhnen.“
– Aischylos –
Dieses Gefühl, ein Unrecht angetan zu bekommen, wenn die Dinge im Leben etwas weniger erfolgreich und angenehm werden, entspricht auch der Gesinnung der gesamten Menschheit. Wenn alles gut läuft denkt niemand gerne an Zeus und dessen Gesetze. Aber sobald der Fingerzeig einer gesetzmäßigen Folgerichtigkeit in das Leben der Menschen eingreift, wird sofort auf das Heftigste mit Zeus gehadert. Ein freier Wille ist nur schön, solange er nicht zur Verantwortung ruft! Auch der einzelne Mensch wendet in seiner ersten Lebenshälfte den Blick von oben ab und denkt sein Glück allein im Irdischen schmieden zu können, ohne zu merken, wie sehr er sich hierbei irrt. Worauf die zweite Lebenshälfte ihm mit Gewissheit ein paar nachdrückliche Denkzettel verabreichen wird, die ihm dann garantiert gelegentlich ein Mitwirken der inneren Gerechtigkeit offenbaren.
Genau wie Prometheus an den Felsen geschmiedet ist, fühlt sich der Mensch an die Materie gefesselt. Das Motiv des Angekettetseins ist uralt und wühlt das Bewusstsein des Menschen in seinen tiefsten Schichten auf. Der Felsen entspricht dem Grab des Stoffes, in dem der Geist eine Weltperiode lang (30.000 Jahre) gefangen bleiben soll. Bitteres Leid hat Prometheus parallel zu seinen guten Gaben unter die Menschen gebracht. Jedoch beginge man einen großen Fehler, wollte man Prometheus nun hämisch betrachten und ihm verkehrtes Handeln vorwerfen. Prometheus arbeitete absolut richtig. Ohne sein Werk hätte es kein menschliches Reich gegeben, das sich aus eigener Kraft wieder in die göttliche Domäne emporheben kann. Prometheus wird in seinem Mythos zum satanischen Sündenbock und messianischen Opferlamm gleichermaßen, wodurch er die beiden Stützpfeiler der Menschheit in ein und derselben Gestalt anschaulich macht. Wer sich selbst in dem gefesselten Prometheus wiederfindet, arbeitet wirksam an der Erlösung des Titanen mit. Jede menschliche Einsicht bringt einen Erkenntnisschritt in Prometheus zuwege. Wenn er auch noch lange braucht, bis sein Leid sich in die Liebe zu Zeus verwandelt haben wird, so geschieht doch schon eine Menge, wenn Prometheus seine eigene Geschichte in der schlaflosen Ruhe an seinem Felsen durchdenkt:
„Indes ich wusste selber alles das ja auch.
Ich habe gern gefehlt, ja gern, ich leugne es nicht,
zum Heil der Menschen dieses Leid mir selbst erzeugt.
Das freilich dacht‘ ich nimmer, unter solcher Qual dahinzuschmachten
hoch an luftiger Felsenstirn, an diesen nachbarlosen Ort verbannt.“
Hier ist Prometheus schon ein wenig aus der Schuldprojektion auf Zeus herausgelangt. Je mehr seine Menschen sich mit seiner Situation identifizieren werden, um so freier wird auch der Geist des Prometheus wieder werden. Sein Opfer ist groß, und er verdient die ganze Liebe der Erdenbürger, denn Prometheus geht wieder einmal den Weg voran und führt seine Menschen, in dem er ihnen ihre eigene Situation so drastisch verdeutlicht.
Der himmlische Auftrag des Prometheus lässt sich auch an der geöffneten Seite erkennen, aus der ein Adler täglich die Leberstücke pickt. Leber und Adler sind Symbole, die zu Zeus gehören. Der Göttervater schickt also schon heimlich Hinweise auf die Erlösung, jedoch kann sie zunächst niemand sehen, denn das Leid, das Prometheus dabei erfährt, steht für die äußeren Augen im Vordergrund. Die Leber symbolisiert die Hybris. Tagsüber reißt der Adler die Hybris in den solaren Himmel, erhöht sie praktisch, potenziert sie, aber nachts, wenn die lunare Welt regiert, wächst sie wieder nach. Die Griechen siedelten auch die Leidenschaft in der Leber an. Im Licht der Sonne reißt der Geistvogel das Wollen in die Wahrheit empor, aber im silbermatten Mondenspiegel verfällt sie erneut der Täuschung. Dieses Dilemma bleibt so lange hoffnungslos, bis der Mensch beginnt, seinen freien Willen zu zähmen und ihn unter das Banner himmlischen Strebens zu stellen. Auf diese Weise erwacht auch in Prometheus langsam die Liebe zu dem olympischen Gott. Diese Liebe zu seinem Vater wird seine Erlösung werden. Prometheus wird sich erinnern, dass diese Liebe in Wahrheit das Verdienst seiner heiligen Berufung gewesen ist. Er hat eigentlich immer nur heim zu dem Vatergott gewollt, war aber schon zu weit von ihm weggegangen, um auf einfachen Wegen zurückzukehren. Also wurde der ganz lange Weg nötig, auf dem er sich noch jetzt befindet. Die Agape wird es sein, die seine Eisenketten öffnet, und Prometheus hat viel Zeit, diese Liebe in seinem Herzen zu entwickeln.
„Zeus ist die Tiefe der Erde und des Himmels, des sternenbesäten.
Ein großer Königsleib ist es, in dem dies alles hier kreist!“
– Orphische Hymne –
Zeus repräsentiert das solare Vaterprinzip, das die Welt wie eine Sonne aufbaut. Im Mittelpunkt regiert der Primus inter Pares, und alle anderen Wesenheiten scharen sich kreisförmig um ihn herum. Der Mittelpunkt ist Gesetz und Hüter der Ordnung gleichermaßen. Ein jeder hat sich diesem Gesetz unbedingt zu unterstellen, sonst bringt er die zentrierte Ordnung durcheinander. Lehnt sich auch nur einer gegen das innere Gesetz auf, muss er gezwungen werden, sich wieder darauf einzuschwingen. Deshalb ist es nicht möglich, sich auf Dauer gegen das Regiment des Mittelpunktes aufzulehnen. Nur Zeus kann machen, was er will, er allein ist unfehlbar, solange er den Mittelpunkt eingenommen hat. Was er auch beginnen mag, wenn er auf dem Herrscherthron der Gottheit sitzt, kann jede seiner Handlungen nur richtig sein, da er eins ist mit dem Zentrum des Kreises. Wer hier aufbegehrt und diesen Aspekt des solaren Weltbilds vehement ablehnt, da er denkt, der zentrale Punkt sei unberechtigterweise anmaßend, sollte sich einmal vor Augen führen, wie sehr sich dieses Prinzip überall dort zeigt, wo eine heilsame Ordnung festen Bestand und Dauer besitzt. Man muss nur lange genug hinschauen, dann wird man sehen, dass nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden alles, das nicht ordentlich in einem solchen väterlichen Kreisgefüge angelegt ist, recht schnell zugrunde geht. Die altägyptische Hieroglyphe für Ewigkeit stellt eine kreisförmig gelegte Schnur dar, in der Anfang und Ende den Kreis schließen. Da der Mittelpunkt nicht vergehen kann, weil seine Wahrheit außerhalb des Vergänglichen liegt, muss auch der Kreis ewig sein, denn er vermag jederzeit wieder aus dem Punkt hervorzugehen. Der Punkt ist Zeus – nicht von dieser Welt, aber der Beherrscher dieser Welt! Wer daran zweifelt, betrachte den Aufbau der Zelle, die Erde mit ihren Gestirnen, die sich von innen nach außen entfaltende Blüte, die Tafelrunde von König Artus und Jesus mit den Aposteln. Sogar das Wort Stadt leitet sich etymologisch von orbis (=Kreis) ab und definiert sich aus dem Zentrum heraus.
Mandalas, sakrale Rund- und Kuppelbauten, runde Uhren, rund gebackenes Brot – nichts freut den Menschen mehr als Formen, die rund sind. Dies liegt an der heimlichen Sehnsucht nach der solaren Herrschaft, die als Allgegenwart Gottes aus dem Mittelpunkt des Seins heraus alles um sich herum regiert. Das Runde wird von den meisten Menschen als weiblich bezeichnet, da sie „rund“ mit weich assoziieren. Streng genommen ist im Kreis der innere dimensionslose Punkt männlich und seine formale Ausdehnung bis zur Peripherie bereits weiblich. Da der Punkt jedoch nicht darstellbar ist, gilt in der Mythologie und in der okkulten Lehre der Kreis mit einem Punkt seit jeher als Symbol der männlichen Schöpfernatur, die aus sich selbst Leben oder Energie hervorbringt – genau wie die Sonne. Prometheus übernimmt die Ausformung des Kreises, indem er die omnipotente Kraft des Zeus benutzt, um eine Peripherie aufzubauen, die rundherum eine Spannung zum Mittelpunkt bildet. Anfänglich fühlt er sich gut dabei und hält sich für eine adäquate Gegenkraft zu Zeus, weil er glaubt „schöpfen“ zu können. In seinem Übermut merkt Prometheus nicht, dass er ohne Zeus eigentlich nichts hätte erreichen können. Der Freie Wille, die Bewusstheit in den Seelenfunken, die Athene den Menschen gab, und das Feuer sind voll und ganz Eigentum des Mittelpunktes. Ein Circulus lebt nur von seinem Zentrum. Zeus kann und will diesen Platz nicht verlassen, darum vermag er die Arbeit an der Fixierung der Dualität nicht selbst zu verrichten. Der Vater der Manifestation bedarf eines Demiurgen, der die Schöpfung strukturiert. Diesen muss Zeus zunächst mit einem freien Willen ausstatten und seine Taten ernst nehmen. Da sich Zeus dennoch dem Gesetz der Spannung verpflichtet weiß, muss er den Demiurgen den Spannungsschmerz erleiden lassen, wie ihn auch die Menschen erleiden. Es gibt für niemanden außerhalb des Mittelpunktes eine Ausnahmeregelung. Dies erklärt, warum auch Gottessöhne auf ihrer Mission in der Schöpfung leiden müssen. So wird auch Zeus zum rächenden Gott, der seinen Demiurgen für eine Weltenperiode an den Felsen schmiedet und ihn schlaflos das Leid ertragen lässt. Darin liegt keine mutwillige Strafe aus persönlichem Ärgernis, es ist vielmehr ein unumgehbares Gesetz der Manifestation.
Die Erlösung des Prometheus als Gleichnis menschlicher Erlösung
Der Titan erträgt das Leid am Felsen. In der Zeit der Höllenqualen bringt er zwei Dinge zuwege: Er demonstriert den Menschen ihre eigene Situation des Gefesseltseins, und er selbst beginnt allmählich seine Lage zu begreifen. Ein neues Verständnis wächst langsam in ihm heran und besiegt die Hybris. Er, der Vorausdenker, glaubte Zeus überlistet zu haben, ihm überlegen gewesen zu sein. Jetzt aber sieht er langsam ein, wie sehr er Werkzeug war, okkultes Werkzeug einer viel höheren Macht. Auf der Höhe des Berges, also weder auf Erden noch im Himmel, sondern auf dem Gipfel seiner Mission geschieht das Wunder einer Schattenintegration. Prometheus verliert seinen Machtanspruch. Endlich, in der Marter, die nur ein sakral Berufener auszuhalten imstande ist, senkt sich sein ach so stolzes Haupt langsam auf die Brust hernieder. Endlich erfolgt die Gegenbewegung, die das Recken und Zwingen mit Demut ausgleicht und ihm die Würde eines Gottes zurückgeben wird. Jetzt erst hat er das Recht erworben, wahrhaft demütig sein zu dürfen. Den ganzen Weg ist er gegangen und gewinnt am Ende volle Einsicht in die nach unten auf die Erde gerichtete Trinität „Gott, Sohn, Mensch“ und erkennt dies als notwendiges Gegengewicht zu der nach oben gerichteten „Gott, Sohn, Heiliger Geist“. Prometheus, der von Menschen verehrte und geliebte Gott, war nur ein Handlanger des Kreismittelpunktes – ein Mittler zwischen den Welten, nicht viel mehr als ein amtierender Bote! Nun stellt er entsetzt fest (jedoch nicht ohne den heiligen Schauer reiner Gottesliebe zu spüren) dass auch er ein im Nachhineindenkender war, wie sein Bruder Epimetheus. Mit diesem Erkenntnisschritt besiegt Prometheus umgehend seine persönliche Spaltungsproblematik, die in seiner irdischen Mutter und seinem himmlischen Vater begründet liegt. Prometheus atmet die Qualität seines dunklen Bruders wieder ein, erlöst diesen damit aus dem Schattenreich der Pandora und wird durch die Projektionsrücknahme reif, von dem zeusischen Urteil noch vor dem Ablauf der Weltenperiode erlöst zu werden.
Wie Prometheus dann letztlich von dem Kaukasischen Felsen befreit wird, ist in verschiedener Weise überliefert. Am stimmigsten erscheint das Folgende: Herakles tötet zunächst den Adler. Der heilkundige Kentauer Chiron, dem Herakles eine sich nicht mehr schließende Wunde zugefügt hat, verzichtet alsbald zugunsten von Prometheus auf seine Unsterblichkeit. Prometheus wird losgebunden und begibt sich auf den Olymp, wo von nun an der Platz des Titanen sein wird, dessen Herz jetzt in Liebe für Zeus in Flammen steht. Und der Magier, der Okkultist in ihm, findet Geduld, er kann warten, denn ganz im Geheimen weiß er, die Saat ist gesät, die Menschen sind von seiner Fackel so bewusst geworden, dass sie eines Tages auch das Titanengeschlecht aus dem Tartarus befreien werden – dann erst wird wahre Einheit möglich sein, wenn auch in dem Reigen der Götter nur noch der Ur-Vater, „uro“ der „ich brenne“, den Mittelpunkt allen Seins beherrscht: URANOS! Uranos zu erkennen, heißt eingeweiht zu sein in Leiden und Lieben des Prometheus. In dem nachfolgenden Gedicht spiegelt sich die Seele eines Eingeweihten, der mit Gelassenheit sein Werk zu Ende bringt, und dauere dies auch dreißigtausend Jahre.
Grenzen der Menschheit von Johann Wolfgang von Goethe
„Wenn der uralte Heilige Vater mit gelassener Hand
aus rollenden Wolken segnende Blitze über die Erde sät,
Küss‘ ich den letzten Saum seines Kleides,
kindliche Schauer Treu in der Brust.
Denn mit Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts und berührt mit dem Scheitel die Sterne,
nirgends haften dann die unsichern Sohlen, und mit ihm spielen
Wolken und Winde. Steht er mit festen markigen Knochen
auf der wohlgegründeten, dauernden Erde reicht er nicht auf,
nur mit der Eiche oder der Rebe sich zu vergleichen.
Was unterscheidet Götter von Menschen?
Daß viele Wellen vor jenen wandeln;
Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle,
und wir versinken. Ein kleiner Ring
begrenzt unser Leben, und viele Geschlechter
reihen sich dauernd an ihres Daseins unendliche Kette.“
Gabriele Quinque