Parzival, der Sohn der Witwe
In der legendären Figur namens »Parzival« offenbart sich ein Mensch, der von seinem höheren Selbst, seinem solaren Anteil, gelenkt wird. »Er trägt Manneskühnheit im Herzen«, so drückt dies Wolfram von Eschenbach aus. Im Gegensatz zu einem lunar gesteuerten Erdenbürger genügt es dem Solaren nicht, das Bewusstsein allein um Nahrungsbeschaffung und Triebbefriedung kreisen zu lassen. Einen Parzival verlangt es danach, den Horizont seiner Wahrnehmung weit über das Irdische und Kreatürliche hinaus zu erstrecken, um dem Dasein das letzte kosmische Geheimnis entlocken zu können. Man könnte sagen, heimlich und leise vernimmt Parzival aus seinem Innersten den Erlösungsbittruf des Amfortas. Das Bestreben, diesem inneren Ruf Folge zu leisten, versinnbildlicht sich in dem Gefäß, das »der Gral« genannt wird. Der Gral bildet das Ziel der Suche, und wer unterwegs dorthin ist, der ist ein Gralssucher. In Parzival findet man alles, was ein Gralssucher an Charakterstärke mitbringen und an Taten zu vollbringen hat, um schließlich auch ein Gralskönig werden zu können. Durch sein Finden der göttlichen Einwohnung in der Welt avanciert er als Gralskönig zu einer Erlöserfigur, dem Gralshüter.
Der dunkle, saugende Mutterschoß
Um diesen Weg zu meistern, bedarf es eines stofflichen Körpers als Gefäß. So paradox es auch erscheinen mag, erst das zeitliche Erleben, das den Seelenweg in Etappen hintereinander abspult, bringt den Menschen in die Nähe einer echten Einheitsschau, wie sie der Gralsfinder auf der Gralsburg erfahren darf.
Parzival wird sich auf seinem Weg zum Gral ganz in der Welt verwickeln und versündigen, um sich dereinst über den Umweg des eigenen Bekenntnisses von der Urschuld reinzuwaschen. Darum hören wir von dem Gralsfinder Parzival, dass er in seiner Einkörperung ganz und gar den Abstieg in das Unbewusste erfahren muss. Der Dichter lässt Parzival nicht etwa in einer Lotosblüte zur Welt kommen, um dessen karmische Reinheit anzuzeigen, sondern schickt ihn ganz in die finstere Höhle eines irdenen Mutterschoßes hinab. Darin liegt ein großes Mysterium: Die Seele eines Pfadwanderers muss stets total »Mensch« werden, ungeachtet dessen, wie nahe sie dem Thron Gottes schon gekommen war. Es gilt, den Bogen der Existenz immer wieder möglichst weit nach unten zu spannen, um den Pfeil des Willens kompensatorisch nach oben schießen zu können.
Parzivals Vater ist Gahmuret, der unstete Ritter, der vor seiner Geburt im Kampf fiel, und seine Mutter ist dessen gramgebeugte Witwe Herzeloyde. Das Vaterhafte, also die Elemente Feuer und Luft, lernt Parzival in seinen frühesten Kindertagen deshalb nicht kennen. Das Fehlen der väterlichen Projektionsfläche stellt ein uraltes Mythologem dar, das sich grundsätzlich an den Anfang eines Heldenweges stellt. Wie der ägyptische Horus oder der freimaurerische Hiram, ist auch Parzival der Sohn einer Witwe. Das Männliche, das Elektrische, soll im Helden in einem derart hohen Maße angelegt sein, dass es auf der niedrigsten Vaterstufe – der biologischen – keiner konkreten Unterweisung mehr bedarf. Auch ein schwacher, selten anwesender, erfolgloser oder kranker Vater transportiert noch ein Quäntchen dieser Beweggründe im Erdenleben eines Menschen. Erst die verschiedenen Lehrer, denen Parzival später begegnet, werden ihm brauchbare Vateressenzen verabreichen.
Die Geburt Parzivals kostet die Mutter fast das Leben, so kräftig ist er gebaut. Sobald jedoch Parzival den bergenden Uterus verlassen hat und in das freie, irdische Heldenleben eintreten könnte, sinkt er in die umhegenden Hände der Hofdamen, die seine augenblicklich noch winzig anzusehende Männlichkeit mit herzlichen Blicken liebkosen, und Herzeloyde selbst nährt ihn mit Muttermilch.
Parzival erfährt darin die Signatur der Materie, die den Elementen Wasser und Erde treu ergeben ist. Die weiblichen Qualitäten sind magnetisch, raffend, saugend und verschlingend. Wer in ihre Fänge gerät, hat es schwer, sich daraus wieder zu befreien, weiß er doch nie so genau, ob er ihre Wohltaten behalten oder hinter sich lassen möchte. Wie die Materie, so trägt auch das Mutterhafte die Ambivalenz des Angenehmen und des Unerträglich zu gleichen Teilen in sich. Angenehm ist es in seiner Art, Nestwärme zu schenken, unerträglich in der Druck ausübenden Bindung an ein viel zu eng geknüpftes Weltbild. Daraus folgt, dem einen ist Mutters Busen Anlass zu Genuss und Freude, dem anderen vermag die fette Milch zur Folter gereichen, weil sie ihn in einer Lebenssituation festhält, die er bemüht ist zu verlassen.
Das mütterliche Gefängnis
Parzival bleibt am Beginn seines Lebens dem Mutterhaften in seiner ganzen Dichte ausgeliefert, denn Herzeloyde verhehlt ihr Herzeleid nicht und klagt das Schicksal heftig an, ihr den Gatten aus den weichen Armen entrissen zu haben. Dies führt dazu, dass der ganze Hofstaat ihren Jammer mitzutragen hat und so weicht die Freude allmählich vom Hofe. Schließlich zieht sie sich mit Parzival in die Einöde Soltane (von franz. solitude, Einsamkeit) inmitten eines dunklen Waldes zurück. Ihrem Amt als Königin zum Trotz lässt sie drei Königreiche hinter sich, das des Körpers, das der Seele und das des Geistes, um die instinkthaften Bereiche des unreflektierten Gefühlslebens vorzuziehen.
»Seid verständig, und sagt ihm nichts vom Rittertum«, befiehlt Herzeloyde den Bediensteten. Da sie ihren Gemahl an diese Instanz verlor, hofft sie, ihren Sohn davon abhalten zu können, jemals Ritter zu werden, indem sie ihm die Eindrücke vorenthält, die mit Ritterschaft einhergehen. Mit plazentahaftem Sog wird Parzival in der mütterlichen Abgeschiedenheit von den Erfahrungen des Heranwachsenden fern gehalten. Die Erdkräfte drücken ihn zu Boden und das Wasser nimmt ihm den Mut, sich aufzubäumen und einen Blick in den Himmel zu wagen. Herzeloyde lehrt ihn weder, mit dem Schwert zu unterscheiden, noch Mut und Mannbarkeit in den Sichtweisen zu entwickeln. Sie zeigt ihm das wahre Gesicht der Frau Welt, die sich selbst herausputzt und mit Nahrung in einer Weise an den Stoff bindet, die es ihren Schützlingen unmöglich macht, mit einer Individuation zu beginnen.
Würde Parzival nicht eines Tages mit Gewalt die Fesseln der Erde zerreißen, käme kein Gralsfinder dabei heraus; Parzival würde dann jenen traurigen Exemplaren ähneln, die noch jenseits des fünfundzwanzigsten Lebensjahres in den mütterlichen Fangarmen liegen und ihre zahlreich zutage tretenden Neurosen und Unfähigkeiten irrtümlich als Familiensinn und Liebe deklarieren. Die materiellen Kräfte verfügen über eine ungeheure Macht, dem flügge Werdenden ein schlechtes Gewissen zu suggerieren, sobald sich Nestfluchttendenzen zeigen. Nur mit Gewalt reißt sich ein Mensch von der Materie und dem Mutterhaften los.
Das Erwachen der Ich-Kräfte
Das Besagte gilt gleichnishaft auf vielen Ebenen, denn in Wahrheit wurzelt in den kleinen Dingen des Daseins ein wesentlich größerer Grundkonflikt des Menschen. Der eigentliche Vater ist in letzter Konzsequenz Gott, und die Mutter ist die Erde. Will der Mensch sich über die Form erheben, um in den Geist vorzudringen, stellt sich ihm die Materie der Mutter als Hindernis in den Weg. Parzival wird diese verschlingende Mutter verlasen und aus dem engen Weltbild fliehen. Jedoch die hemmenden Stoffeskräfte schlüpfen stets sofort in neue Verkleidungen, wenn er glaubt, sie auf einer Ebene überwunden zu haben.
Zu einem Jüngling herangewachsen, entwickelt Parzival aus sich selbst heraus ein natürliches Jagdfieber, schnitzt sich Pfeil und Bogen und erlegt so manchen Vogel. Stürzt freilich dann das eben noch frei fliegende oder schön singende Gefieder zu Boden, erfasst den Jäger eine tiefe Traurigkeit. Darin zeigt sich schon früh die Empfindsamkeit des Mystikers, die ihm später auf seinem Weg großes Heil bringen wird. Manchmal hört Parzival bloß dem Lied der Vögel zu und spürt eine seltsame Rührung in der Brust, die ihn bitterlich weinen lässt.
Herzeloyde gibt den Dienstboten Anweisung, alle Vögel zu töten, da sie von der dunklen Ahnung beherrscht wird, dass Parzival in dem Gesang der Freien und Fliegenden das eigene Gefängnis bewusst werden könnte. Aber die Vögel fliegen schneller davon, als man sie töten kann. Herzeloyde ist im Grunde froh darüber, sie erkennt darin den Eigennutz und schließt wieder Frieden mit Gott, indem die Vögel am Leben bleiben dürfen.
Das unreife Gottesbild
»Ei, Mutter, was ist Gott?« fragt Parzival. Herzeloyde antwortet, er sei noch lichter als der helle Tag, man könne ihn in der Not anflehen, seinem Widersacher, dem Fürsten der Hölle aber müsse man sich fernhalten. Das Gottesbild Parzivals erfährt durch Herzeloyde einen Beschnitt in seiner Dimension. Die Enge ihres Bewusstseins gliedert das Leben in ein unfertiges Schwarzweißdenken. Damit legt die Mutter den Knaben für einige Jahre in den Brutkasten der Verdrängungen. Indem sie Parzival ein naives Gottesbild überstülpt, das in seiner Bigotterie zu einer Unfreiheit im Denken führt, bindet sie ihn an ihre mütterlichen Machtdomäne. Den Teufel als Projektionsfigur für alles Schlechte in der Welt zu benutzen, legt den Menschen unweigerlich fester in die Ketten der Hölle, ist doch der Teufel nichts anderes als die Stoff gewordene Schöpfung selbst. Gott und sein Widersacher bilden gemeinsam die sichtbare Welt, anders gesagt, ohne das physische Gerinnungswerk Luzifers kann Gott nicht Schöpfer der Erde sein.
Eines Tages begegnet Parzival zunächst drei Rittern im Wald. In glänzenden Rüstungen sitzen sie hoch zu Ross, und er glaubt, es könnten nur Götter sein, so hell und leuchtend erscheinen sie ihm. Darum wirft Parzival sich mehrmals vor ihnen auf die Knie und erfleht ihren Beistand, aber sie verstehen ihn nicht und empfinden ihn als lästig. Da folgt noch ein vierter Ritter, dessen Rüstung noch prachtvoller glänzt. Sein kostbarer langer Waffenrock ist mit goldenen Glöckchen gesäumt, ebenso klingeln die Steigbügel. Die vier Ritter verkörpern die ersten Abgesandten seiner eigenen Sinnsuche, deshalb entsprechen sie aus der subjektiven Betrachtung Parzivals wahrhaftig Göttern. Durch diese Ritter erfährt er etwas von dem Rittertum und von der Möglichkeit, Ritterschaft an dem Hof von König Artus erlangen zu können. Parzival ist sehr beeindruckt von den Waffen, und vor allem von der Rüstung, die den Ritter weitgehend unverletzlich macht. Auch er wünscht sich eine solche Rüstung, die den festen Ichkräften des Menschen entspricht, denn wer in seinem Ich gefestigt ist, wird unverletzlich. So zu denken ist das Vorrecht der Jugend.
Nach der Begegnung hält es Parzival nicht mehr in Herzeloydes Einöde. Er berichtet ihr von den Rittern und eröffnet ihr kurzerhand, dass er ausziehen wolle, den Hof des König Artus zu suchen, um dort auch ein Ritter zu werden. Als Erstes bittet er seine Mutter um ein Pferd und erhält von ihr einen recht erbärmlichen Gaul, da sie hofft, er könne auf ihm nicht zum Ziel kommen. Ihre gut gemeinten Ratschläge sind dann ebenso närrisch und unbrauchbar: Er soll das Dunkle meiden und nur durch seichte Gewässer gehen, dem Alter und der Erfahrung vertrauen, Ring und Kuss nehmen sobald er einer holden Jungfrau begegnet. Mutter Herzeloyde meint damit, er möge ein schönes, normales Leben in der Mittelmäßigkeit führen. Des Weiteren kleidet sie ihn in ein Stück Sackleinen, mit nackten Beinen und Bauernstiefeln. In einem solchen Narrengewand würde er dem Spott der Leute ausgeliefert sein und reumütig zu ihr zurückkehren, so ihre Hoffnung. Aber Parzival kehrt nicht zurück. Er geht weit, sehr weit - von Mutters Weltbild weg - auf seinen Weg.