Gahmuret, der Ritter ohne Treue

Aus Büchern beziehen genug Leute ihren Sauerteig.
Der Lauf dieser Aventüre wird nicht von
irgendwelchen Büchern gelenkt.
Und ehe man sie selbst für ein Buch hielte,
wollte ich lieber nackend ohne Tuch im Bade sitzen
Verzeihung, meine Damen, den Laubbüschel würde
ich allerdings doch nicht vergessen.
Wolfram von Eschenbach
So lauten die Worte in der Prosaübersetzung des Werkes »Parzival« von Wilhelm Stapel. Wolfram von Eschenbach setzt diese eigentümliche Aussage just an jene Stelle, an der er seine eigene Erfindung – nämlich Gahmurets Leben als Vorgeschichte – beendet und sich jener Figur namens Parzival zuwendet, die auch der Franzose Chréstien de Troyes in seiner Gralsgeschichte agieren lässt. Zudem stammt die Figur Parzival aus einem keltischen Märchen, das von dem Glück des Tölpels erzählt. Obwohl er sich offensichtlich verschiedener Quellen bedient, will Wolfram von Eschenbach sein Werk dennoch auf keinen Fall als Nacherzählung verstanden wissen. Er verwendet allenfalls verschiedene keltische Legenden als Bühnenbild für eine okkulte Wesentlichkeit, die sich gut davor entfalten lässt, und verlangt von dem Leser eine Übertragung der Metaphern auf die okkult-religiöse Ebene. Wolfram erhärtet dies mit der scherzhaften Bemerkung, dass er, der Dichter, weder lesen noch schreiben könne. Da er mit seinem vielschichtigen Werk jedoch unter Beweis stellt, des Schreibens auf höchstem Niveau mächtig zu sein, dürfen wir nach der wahren Bedeutung seiner Worte getrost auf einer anderen Ebene Ausschau halten. Lesen und Schreiben sind zunächst einmal merkuriale Fähigkeiten, die sich häufig auf eine bloße Reproduktion beschränken. Vieles was geschrieben wird, berichtet über ein Geschehen und nur Weniges erzählt von einer Geschichte. Es kommt eben darauf an, ob ein Jonas selbst im Walfischbauch war oder ob ein Berichterstatter sich nur informiert hat, wie es da drinnen wohl aussehen möge. Dies verhält sich wie Faust II zu einem Spiegel-Artikel über Religion, denn in diesem Magazin steht viel über Religion, aber kein einziges Wort von der Religion. Wohingegen in Faust II ausschließlich von Religion die Rede ist, ohne auch nur im Ansatz noch drüber zu diskutieren. In diesem Sinne will Eschenbach sich als ein Initiierter verstanden wissen, der weiß, wovon er spricht. Wolfram erklärt diesen Umstand noch genauer mit einer alchymistischen Allegorie:

Dies flücht’ge Gleichnis ist der Toren
Einfält’gem Sinne ganz verloren:
Der Tor des Bildes Sinn nicht sieht,
Vor seinen Augen es entflieht
Recht wie ein aufgeschreckter Hase.
Wolfram von Eschenbach, Parzival
Wer Gleichnisse nicht erfassen kann und versucht, eine Wolke in ein Kästchen zu pressen, wird für den wahren Sinn eines Bildes vollständig blind bleiben müssen. Nun lässt sich aber von Religion und Weisheit ausschließlich in Form von Gleichnissen sprechen, da sich die religiöse Erfahrung auf einer Ebene ereignet, die sich der merkurialen Beschreibung entzieht. Der Weise folgt also dem Hasen in den Bau bzw. der Dichtung Eschenbachs in das innere Wissen. Wer nur mit dem Intellekt darin lesen würde, käme auf die Idee, historische Orte der Gralsmythen zu suchen, anstatt sich aufzumachen, den Gral in sich selbst zu finden. Jenes Finden ist aber nur stufenweise möglich, es bedarf der schrittweisen Weihe, und eine dreiste Anfangseuphorie muss sich zwangsläufig in dem langwierigen Prozess seelischer Läuterung verlieren.
Das Gleichnis der Elster
In einem Gleichnis von den zwei Farben der Elster beschreibt Eschenbach drei Stufen menschlicher Werdung: Auf der untersten Stufe ist man schwarz und hält sich ausschließlich an die irdische Sichtbarkeit: Es ist der Sarkiger, der Eingesargte, der nur Körperliches für wahr hält und sich darum selbst in die Finsternis des ersten Tierkreis-Quadranten verbannt und dadurch den inneren Halt verliert. Der wankelmütige, der scheckige, schwarz-weiße Gefühlstypus hingegen siedelt sein Bewusstsein im zweiten Quadranten an, der Hyliker, der Seelische, sieht und fühlt gleichermaßen, befindet sich aber immer noch als Unbekehrter in einer Zerrissenheit zwischen schwarz und weiß. Erst der dritte, der Pneumatiker, der Geistvolle, orientiert sich im geistigen Quadranten und bringt es fertig, die Gegensätze auf einer inneren Ebene miteinander zu vermählen, was ihn weiß werden lässt. Diesen allein nennt man einen Getreuen. Spricht man im geistigen Sinn von Treue, so bezieht sich dieses Treusein nicht auf eine moralische Vorschrift. Sich an eine Anstandsregel zu halten, ohne sich der Treue im höheren Sinn verschrieben zu haben, muss als törichte Unbewusstheit bezeichnet werden und bindet den Menschen fester an die Hörner des Teufels, als er ahnt. Gerade dies geschieht aber in der Mitte des Fische-Zeitalters, denn kaum ein Christ weiß noch, was mit »initiatischer Treue« gemeint ist, und das Gebot der Treue wird unter Zwang überwiegend moralisch ausgelegt. Das Wort Treue bedeutet »stark und beständig sein wie ein Baum« auch»ehrlich und wahrhaftig sein«. Wer demnach sich selbst noch nicht erkannt hat, kann in Wahrheit niemals treu sein, auch dann nicht, wenn er im familiären Sinn die Fahne der Treue hochhält. Ein wahrer Getreuer zu sein bedeutet, seine Lebensaufgabe durch Selbsterkenntnis und Schattenintegration erfasst zu haben und dieser Aufgabe mit Fleiß und Hingabe nachzukommen. Es verbirgt sich in dem Wort Treue die lat. Silbe tri, welche stets eine Dreiheit bezeichnet. Treu sein kann also nur ein Mensch, der den Heiligen Geist als dritten Punkt in sein Bewusstsein eingelassen hat. Doch dies vollbringt er nicht aus sich selbst heraus, dies muss durch etliche Weihen von geweihter Hand geschehen. Wenn die Seele des Menschen dem Geist Gottes treu ergeben ist, dann ist er im Großen treu, und er wird aus dieser »Selbst«-Verständlichkeit heraus auch im Geringen treu sein müssen. Der Ungeweihte, der sich zwar im persönlichen Leben treu gebärdet und dies nur mit seiner Gewohnheit oder gar Feigheit verwechselt, ist im großen Sinne ein besonders Treuloser, da er sein wahres in Gott ruhendes Selbst noch nicht erkannt hat.
Lancelot und Parzival
Der Gral selbst symbolisiert die weibliche Seite Gottes, die den feurigen Geist des Alls in sich aufnehmen kann. Die Gralssuche muss demzufolge ein männlicher Weg sein, ein solarer Weg, der zielstrebig mit innerem Feuer gegangen werden sollte und weder Lauheit noch Angst erlaubt. Zwei ritterliche Figuren ragen in den Gralsmythen hervor: Lanzelot und Parzival. In Lanzelot zeigt sich das kleine Ich des Menschen, das dem Geist, dem König, zwar bereits ergeben ist, jedoch die Königin Ginover als Symbol der diesseitigen Seele für sich selbst begehrt. Es ist jener Pfadwanderer, der einen spürbaren Nutzen für seinen Alltag erhofft und nicht bereit ist, zu Gunsten der Ganzheit auf eigene Früchte seiner Bemühungen zu verzichten. Obwohl Lanzelot anfänglich der bessere Ritter ist, erweist er sich wegen seiner Ichgebundenheit als untauglich, den Gral zu finden. Lancelot besitzt die Treue auf keiner Ebene.
Parzival hingegen wird durch seine Geschichte zeigen, welche Stationen durchwandert werden müssen, um in der echten Treue zu münden. Wolfram von Eschenbach verleiht Parzival mit der Beschreibung seines Vaters eine innere Vergangenheit, eine Vorgeschichte des Scheiterns, in deren Muster das Thema der Gralssuche bereits zu erkennen ist, wenn auch noch klein und verkapselt.
Der väterliche Auftrag durch Gahmuret
Mit dem Prolog rückt die Gralsfindung in die reale Erfahrbarkeit menschlichen Seins. Wer gestern noch Gahmuret war, könnte heute Parzival sein und morgen Gralshüter werden. Auf der Erkenntnisebene bedeutet dies, die begonnene Suche des Vaters anzunehmen und an deren rotem Faden weiterzugehen. Astrosophisch gesehen, liegt der Lebensauftrag eines Menschen stets im Sonnenauftrag des Horoskopes, worin sich archetypisch der Charakter des Vaters verbirgt. Es lohnt sich für jeden, die heimlichen Sehnsüchte des Vaters anzuschauen, sich zu vergegenwärtigen, worum er ein Leben lang rang und zu erkennen, an welcher Hürde der Vater letztendlich scheiterte. Im Bewältigen dieser Thematik liegt der eigene Auftrag. Es gilt hier zu retten, was dem Vater auf seinem Lebensweg entglitten ist.

Gahmuret, der Vater Parzivals, vererbt seinem Sohn das Thema der Sinnsuche. Gahmuret will den mächtigsten Herrscher der Welt finden und ihm als tüchtiger Ritter dienen. Er selbst ist ein Königssohn. Er trägt den Keim geistiger Verwirklichung bereits in sich, versäumt es aber, in Gott den mächtigsten Herrscher der Welt zu sehen und zieht darum in ruheloser Sucher über die Erde. Der ganze Such- und Suchtbereich gehört zu dem Begriff der Heldenreise. Fast jeder Mensch sucht nach etwas mehr oder weniger Konkretem, und eigentlich kann er erst im Schoße der Gottheit damit aufhören, denn ist das eine Ziel gefunden, so zeigt sich dahinter immer wieder ein neues, das noch erstrebenswerter erscheint als das vorherige.
Gahmuret, der Königssohn, kämpfte für den Kalifen von Bagdad, durchzog Persien, Arabien und gelangte bis Damaskus. Auf einer Schiffsreise wurde er von Stürmen an die Nordküste Afrikas verschlagen, und sein Weg führte ihn zu der Stadt Patelamund. Diese besitzt 16 Tore. Vor 8 Toren liegt jeweils ein weißes Heer und vor den anderen 8 Toren jeweils ein schwarzes. Die Zahl 8 deutet auf die Bereitschaft zur Verwandlung hin, die Zahl 16 verbirgt den 16-blättrigen Lotus der Chakrenlehre, welcher das Tor zur Befreiung genannt wird. Auch Wolframs »Parzival« hat 16 Kapitel; die ersten 8 dienen der Verwicklung in die Schuld, die zweiten 8 der Erlösung aus der Schuld. Dieser Weg führt von der Unschuld über die Schuld in das Bekenntnis und zur Erlösung. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Gahmuret schlägt alle Belagerer im Kampf, gewinnt die Königin von Patelamund zur Frau und wird somit auch zum König der Stadt. Die Mohrenkönigin heißt Belakane, das bedeutet Pelikan. Damit wird sie zu einem Symbol selbstloser Liebe, denn Legenden berichten, der Vogel risse sich seine Brust auf und nähre seine Kinder mit eigenem Herzblut. Obwohl sie Gahmuret alles gibt, findet er bei ihr die Ruhe nicht, und nach sehr kurzer Minnezeit verlässt er die kaum gewonnene Gemahlin und zieht weiter.

Belakane ist eine Mohrin und obendrein noch eine Heidin. Gahmuret, ein christlicher Ritter, verbindet sich mit dem dunklen Schatten und dem Heidentum. Genau dieses Werk der Schattenintegration wird später Parzival auf einer geistigen Ebene vollbringen: Sein Vater Gahmuret probierte dieses auf der stofflichen Ebene und scheiterte zwangsläufig. Eine wahre Gegensatzvereinigung kann es im Stoff – man könnte auch sagen: außerhalb der Gralsburg – niemals geben, trotz aller gut gemeinten Versuche. Der Sohn aus dieser Verbindung heißt Feirefiz, was bunter Sohn bedeutet, und auf seiner Haut zeigt sich die missglückte Gegensatzvereinigung. Er ist schwarz-weiß gescheckt. Christentum und Heidentum sind in ihm noch nicht vereint. Erst durch den Gral wird eines Tages dieses Wunder geschehen können. In diesem Sinne offenbart sich uns der Gral als wahres Esoterikon, vereinigen sich doch Christentum und Heidentum in den Strömungen abendländischer Einweihungstraditionen.
Auf seiner Reise gelangt Gahmuret eines Tages zu einem Turnier, das die junge Königin Herzeloyde ausschrieb. Gahmuret kämpft und gewinnt das Turnier mitsamt der Hand Herzeloydes. Diese liebt er sehr, doch fällt ihm schmerzlich ein, dass er ja bereits mit Belakane verheiratet ist. Aber es findet sich eine praktikable Lösung: Belakane ist eine Heiden – kurzum, die Ehe wird im christlichen Sinn für ungültig erklärt und Gahmuret feiert glücklich Hochzeit mit Herzeloyde.
Noch bevor jedoch ein Jahr vergangen ist, kleidet sich Gahmuret wieder in seinen blechernen Ichpanzer, den er Rüstung nennt, und nimmt Abschied von seiner Gemahlin, um in das Morgenland zu reisen. Seine Unstete wird ihm zum Verhängnis, und er fällt im Kampf vor Bagdad. Die Speerspitze eines Gegners durchbohrt ihm Helm und Kopf. Seine Suche nach dem mächtigsten Herrscher bleibt sozusagen im Gehirn stecken, und das Feuer seiner Begeisterung kann darum nicht in sein Herz vordringen.
Die Gahmuret-Fehler des Anfängers
Ein Gahmuret-Mensch will die Mysterien mit der Ratio erfassen, anstatt zu dem bildhaften Geist vorzudringen. Gahmuret war in seinem Leben niemals ein Getreuer. Die Unstete trieb ihn in der Weltgeschichte herum. Man könnte auch sagen: Er fand den Baum nicht, an dem er sich hätte anlehnen können. Damit verirrte er sich im Sophismus, er tappte gewissermaßen mit einer Augenbinde hinter dem aufgeschreckten Hasen her und war unfähig, sein Inneres zu erkunden. Auf dem esoterischen Weg entsprechen ihm all jene Menschen, die das Geheimwissen horten, wie andere Leute Briefmarken sammeln. Sie besitzen viele Ordner und Karteikarten, beschriften ihre Bücherregale, kopieren jedes nicht mehr lieferbare Buch, studieren alle Lehrbriefe, die sie ergattern können und erstellen lange Indexlisten für die Pfunde von Druckerschwärze, die bei ihnen lagern – stets in der Hoffnung, davon weise und sensitiv zu werden. Doch wenn die Inspiration des Himmels in ihr kleines Haus im Berg (=Herz) zu Besuch kommt, sind sie gerade nicht zu Hause, weil sie mit ihrem Kopf in einem staubigen Antiquariat nach der ultimativen Geheimrezeptur suchen.
Der zweite sträfliche Gahmuret-Fehler stellt das Mischen verschiedener Strömungen dar. Zuerst repräsentierte Belakane das archaische Wissen, und offenbar reichte es dem christlichen Ritter nicht, also vermählte er sich danach mit einer Getauften. Dies war ihm noch erlaubt. Aber mit einer westlichen Strömung verheiratet zu sein und dennoch gen Bagdad zu ziehen, heißt, die Wege zu mischen. Initiatisch betrachtet, ist dies das Ende eines echten Vorwärtsschreitens. Für welchen Weg man sich auch entscheidet, ab einer bestimmten Entwicklungsstufe muss es bei dem erwählten Weg bleiben, sonst geschieht in Wahrheit gar nichts. Die Wege sind alle gleich gut oder gleich schlecht, je nachdem, welchen Anteil man gerade davon erblickt, den inneren oder den äußeren. Das Wappentier von Gahmuret war ein Panther. Dieser gefiel ihm eines Tages nicht mehr, und er wechselte ihn gegen einen Anker aus. Der Panther zeigt sein äußeres Verhalten, mit dem Anker jedoch symbolisiert er seinen seelischen Traum. Gahmuret suchte mit seinem Anker Halt in der Tiefe, der Panther springt waagerecht zur Erde nach vorne und entspricht damit der Kausalität, aber der Anker sucht die senkrechte, die analoge Weltsicht. Gern wäre sein Bewusstsein irgendwo vor Anker gegangen, aber er schaute nur nach Äußerlichkeiten und musste demzufolge immer unbefriedigt weiterziehen. Wie sich in der körperlichen Sexualität niemals eine Gegensatzvereinigung erreichen lässt, so käme auch dem Mysterienschüler das Heilige bald abhanden, sobald er vorwiegend darauf achten würde, welche Abgründe von Charakterschwächen sich in seinem mystischen Collegium auftun.
Herzeloyde bringt nach Gahmurets Ableben dessen Sohn zur Welt und nennt ihn Parzival. Diese Frucht aus Gahmurets christlicher Ehe übernimmt die Sehnsucht des Vaters, er wird nach langen Kämpfen und Verstrickungen ein Getreuer. Parzival folgt sozusagen dem Hasen in den Bau, genießt mündliche Unterweisung und findet die Weisheit in seinem Herzen.