Saturn und seine Signaturen
„Ich werde unsere Welt bis in den kleinsten Baustein erforschen, und kein Geheimnis wird mir verborgen bleiben. Ich werde ein absolutes Wissen über die Natur schaffen, und die Übermacht soll mein verdienter Lohn sein,“ so dachte Herr Dr. rer. nat. Stöffler im Alter von 20 Jahren und rückte seine drei Dioptrien starke Brille zurecht. Zwei Dinge begleiteten den Wissenschaftler schon von frühester Kindheit an: die Kurzsichtigkeit und der Drang, alles auseinander nehmen zu müssen. Was auch immer in seine Kinderhände geriet, fiel seinem Forschungseifer anheim. So löste er unzählige Schrauben und entfernte die Plastikhüllen von allen Haushaltsgeräten, um deren Mechanismus zu begreifen. Er schnitt die Puppe der Schwester auf, weil er wissen wollte, wo die MAMA-Stimme herkommt. Er riss den Insekten die Flügel heraus, um das Gesetz der Schwerkraft zu verstehen. Seine ersten anatomischen Kenntnisse erwarb er sich durch das Sezieren eines Hamsters. Als Kind wehrte sich der Wissenschaftler heftig gegen die Vorwürfe der Eltern und ignorierte das Grauen, das ihm über den Rücken lief, wann immer ihm klar wurde, dass sein Forscherdrang jede Einheit zerstückelte und es ihm nur sehr selten vergönnt war, den ursprünglichen Zustand erneut herbeizuführen. Die Dinge waren kaputt oder tot von seiner Hand.
Niemals hätte der Wissenschaftler in seinem vierzigsten Lebensjahrzehnt geglaubt, dass seine Grundlagenforschung analoge Ähnlichkeiten zu seinen Kindertagen beinhaltet, aber jetzt mit sechzig Jahren ist ihm dieser Blickwinkel nicht mehr fremd. Was mag in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens geschehen sein? Die Antwort ist einfach: Er hatte viele Begegnungen mit Kronos, dem Hüter der Schwelle. Er wollte den festen Stoff ergründen und begab sich dadurch ganz in die Abhängigkeit von den Prinzipien Erstarrung, Begrenzung und Gesetzmäßigkeit. Seine Studien brachten ihn jedoch nach anfänglichem Übermut auf vielen Ebene bei, dass Gott sich nicht so sehr schnell erfassen lässt, wie die Hybris seines Wissens ihn dies glauben machen wollte.
Der Glaube an das Wissen
In der Physik hatte doctor rerum naturalium Stöffler schon Probleme, akzeptieren zu müssen, dass Raum und Zeit gekrümmt sind, als sich aber hinter jedem vorgefundenen sogenannten kleinsten Teilchen ein noch kleineres zeigte, das jeweils wieder denselben Aufbau hatte, geriet er anfänglich in Frustration. Denn auf einmal schrumpften alle vorhergehenden physikalischen Beweisführungen zu puren Glaubenssätzen zusammen. Und das Glauben ist gänzlich unwissenschaftlich, so meinte er vor langer Zeit.
Auch in anderen Fachgebieten gab es immer wieder Überraschungen. Zum Beispiel forschten die Chemiker geradeaus, fielen aber aus überschaubaren Formeln in ein mentales Chaos und mussten einsehen, dass die Weltdynamik im Grunde keine Linearität aufweist. Und die Biologie steht heute erstaunt vor der Erkenntnis, dass das Geheimnis des Lebens letztlich doch nicht auf biochemische Prozesse zu reduzieren sei, obwohl gerade dies sehr lange den Anschein erweckt hatte. In der folgenden Konsequenz müssen nun sogar die Mediziner einsehen lernen, dass es keine stoffliche Ursache für das Kranksein gibt, denn hinter jeder sogenannten Ursache verbirgt sich immer noch eine, die tiefer oder noch weiter zurück liegt. Plötzlich werden die Störenfriede mit und ohne Zellkern (Bakterien und Viren) nicht mehr als Krankheitsursachen sondern als Korrelationen verstanden, und die Ursachen finden ihren Weg in das Paradies zurück.
Die Überwindung der Schwellenangst
Staunend hebt nun heute der sechzigjährige Wissenschaftler die Arme in die Höhe, denn die einst so erdenrealen Fachgebiete fangen an, mythische Religion zu werden. Genau damit hatte er aber anfänglich brechen wollen, indem er die Welt vollständig mit logischer Folge zu definieren versuchte. Nun lernt er durch die Konfrontation mit dem Hüter der Schwelle, dass alle Phänomene nur dann natürlich erklärbar bleiben, wenn man das sogenannte Natürliche von der materiellen Begrenzung befreit und die Transzendenz als Entstehungsort der Wirklichkeit anerkennt. Auf diese Weise ist das Natürliche nicht mehr in der Sichtbarkeit zufinden, sondern in der immateriellen Welt der archetypischen Strukturen. Dies so sehen zu können, ist für einen Wissenschaftler zweifellos ein gedanklicher Kraftakt, doch wenn es Dr. rer. nat. Stöffler gelingt, bringt er die besten Voraussetzungen mit, um ein guter Schüler der geheimen Mysterien zu werden. In Folge dessen wird es ihm erlaubt sein, etwas viel Größeres zu finden als er gesucht hatte. Denn die materiellen Gesetze erfasst er nun als Widerspiegelung der kosmischen Gesetze, und wer die Form kennt, kann den Inhalt verstehen, vorausgesetzt er überwindet die Schwellenangst, und es gelingt ihm der Sprung von der Materie zum Geist. Die okkulte Tradition meint genau dieses Wagnis, wenn sie davon spricht, dass allein der Hüter der Schwelle darüber entscheidet, ob eine Seelenpersönlichkeit die höheren Weihen der transsaturninen Energien empfangen darf oder nicht.
Der Hüter prüft, ob der Mensch die Illusion vom festen Stoff wirklich schon durchschaut hat und ob er den Ursprung der Schöpfung bereits in die immaterielle Sphäre verlegt. Der Hüter will ferner wissen, wie es um den Mut steht, sich die Welt untertan zu machen, d. h. sich zu jener echten, ausgereiften irdischen Machtergreifung zu bekennen, die auf der anderen Seite der Dualität wahre spirituelle Opferbereitschaft erbringen kann. Letztere ist nötig, um durch die Schleier der materiellen Illusion in die Wirklichkeit von Uranos, Neptun und Pluto vordringen zu dürfen.
Der Khylkor der Erscheinung, das selbsterschaffene Gespenst, muss in der Konfrontation mit Kronos besiegt werden. Denn erst im Wissen um die Entstehung der Dinge in der Transzendenz verschwinden die Phantome, die der Mensch irrtümlich für seine objektive Realität hält.
Kronos – Sieg und Niederlage
Der Hüter der Schwelle zeigt in seiner mythologischen Gestalt den chronologischen Entwicklungsweg des Menschen. Die Urschuld von der Absonderung spiegelt sich in der Geschichte des Titanen Kronos. Kronos heißt Zeit, und die Zeit gibt den Takt des Werdens, des Vergehens und des erneuten Werdens vor. Was im höchsten Sein gleichzeitig existiert, ordnet Kronos verschiedenen Zeiträumen zu. Damit zerstört Kronos die alleinige Ewigkeit zugunsten der Aufspaltung. Ohne Kronos gäbe es keine nachvollziehbaren Strukturen, keine Kristallisation, kein Menschenleben in unserem Sinne. Statt dessen wäre alles in amorpher, schwelgender Göttlichkeit versunken, und die einzelnen Prinzipien würden sich ihrer selbst nicht bewusst werden können. Es gäbe weder Klarheit noch Konzentration, weder Individualität noch Selbstbeherrschung. Nur der Zeitfaktor macht es möglich, dem Bewusstsein Raum zu verschaffen, Farben zu sehen, Musik zu hören, in andere Augen zu blicken und irdische Liebe zu erfahren. Ohne Kronos wäre die Welt der Formen genauso flüchtig wie das Astralreich.
Kronos darf nicht mit dem schöpferischen Gott gleichgestellt werden, aber Kronos bildet einen Anteil des Göttlichen, Kronos ist der Herr der materiellen Welt, ohne den der Allmächtige sich nicht in seiner Schöpfung spiegeln könnte. Damit stellt er sich Gott gegenüber, tritt gleichsam aus ihm heraus, um aus göttlichem Geist irdische Formen zu machen. Als Antagonist zu Güte und Barmherzigkeit bringt er Strenge und Erziehung in das Leben. Kronos sorgt für den Beschnitt von Formen und fördert die Eigenmacht im Handeln. Diese Eigenschaften spiegeln sich auch in seiner Geschichte wider, die in altgriechischen Religionsmythen erzählt wird. Sein Vater Uranos (röm. Uranus) wollte die Schöpfung verhindern und presste seine Kinder zurück in die Bauchhöhle der Erdenmutter. Da diese aber naturgemäß gebären will und muss, bittet sie ihren kraftvollsten Sohn Kronos ihr zu helfen. Kronos erhebt sich über seinen Vater und nimmt ihm die Zeugungskraft, indem er ihn mit einer Sichel entmannt.
Saturn frisst seine Kinder (Rubens)
Sobald das Glied vom Himmel herunter fällt, wird die Erde in Blut getränkt und auf dem Prinzip der Dualität entsteht das ungute Schicksal in Gestalt der Furien. Solche Dinge wie Rache, Genugtuung und Vergeltung wachsen heran, während Kronos sich die Krone der Weltherrschaft auf das Haupt setzt und vergessen möchte, dass er nur Sohn, nur Abkömmling, seines Vaters ist. Anfänglich ahnt Kronos noch nicht, was es heißt, ein Schicksalsgott zu sein. Doch im weiteren Verlauf seiner Existenz erlebt er sich selbst eingebunden in dieses Gesetz. Auch Kronos wird durch seinen Sohn entmachtet, und darin zeigt sich die Formel der Welt, deren Grundstruktur allzeitiger Ausgleich mit präziser Gerechtigkeit ist, weil sie vollkommen sein muss, wie der Vater im Himmel vollkommen ist. Aufgrund der Erhebung von Kronos über seinen Schöpfergott Uranos fällt er selbst mit unter das von ihm in das Leben gerufene Gesetz: Er erfährt am eigenen Leibe die Zerstörung seiner Herrschaft durch die Söhne Zeus, Poseidon und Hades. Um einer Weissagung zu entgehen, die verkündet, dass Kronos durch die Hand seiner Kinder entmachtet würde, verschlingt er die Kinder, die ihm seine Gemahlin Rhea gebiert.
Der gütige Zeus mildert die Strenge von Kronos
Als Zeus geboren ist, gibt seine Mutter dem Vater einen Stein zum verschlingen und versteckt das Kind. Als Prinzip des Todes und der Erstarrung ist es Kronos nicht vergönnt, zwischen lebendig Beseeltem und einem Stein zu unterscheiden, weshalb er keinerlei Verdacht schöpft. Seine eigene Leblosigkeit wird ihm damit zum Verhängnis, denn Metis – die erste Gattin von Zeus – verabreicht Kronos ein Brechmittel, und er speit die Geschwister von Zeus wieder aus. Gemeinsam entthronen sie später Kronos.
Zeus obliegt bald die Weltherrschaft, und durch ihn gelangen männliche Güte, Einsicht, Toleranz, Lebendigkeit, Wachstum, Erbauung und Freiheit in die Welt von Zeit und Raum. Zeus trägt den göttlichen Schöpfungsauftrag mit Begeisterung, er ist so selbstherrlich und optimistisch, dass ihn keine Angst erreicht, die dazu führen könnte, seine Kinder einzusperren oder zu verschlingen. Er emaniert seine Energien mit Begeisterung, und daraus nährt sich die stoffliche Welt. Zeus verkörpert den dritten aufbauenden Punkt in dem Schöpfungsdreieck Uranos (plus), Saturn (minus); seine Zeugungslust gleicht einem Freudenfest ohne Ende. Zeus kann die Zeit nicht mehr töten, dafür war Kronos schon zu mächtig, aber Zeus mildert die Strenge von Kronos durch liebevolle Väterlichkeit inmitten der Zeit. Aber er verbannt Kronos in den Tartaros und übernimmt auch dessen Anteil mit in sein eigenes Wesen. Von nun an, muss der Mensch in sich selbst zeusische Erkenntnis erlangen, um eines Tages demütig den Hüter der Schwelle im Tartaros aufzusuchen und ihn zu bitten, den Weg zu Uranos finden zu dürfen. Und dann liegt die Entscheidung zum Voranschreiten bei Kronos, dem Hüter der Schwelle.
Kronos,
Vater der seligen Götter
und der Menschen,
Fleckenloser,
leuchtend vom Rate,
Gewaltiger, wehrhafter Titan;
alles verschlingst Du,
um es selbst zu mehren,
Du hältst die unzerreißbare Fessel
um das unermessliche All.
Kronos, vielfarbig von List,
der Erde Spross,
des Sternenhimmels Keimstoff,
zugleich des Wuchses Verkürzer,
Gatte der Rhea,
Vordenker der Zukunft,
aller Zeugung Beherrscher,
Du wohnst über des Weltalls Teile dahin.
Höre, Verschlagener, Trefflichster,
meine flehende Stimme:
Einem glücklichen Leben
sei ein seliges Ende beschert!
(Rauchopfer von Styrax)