Sisyphos im Amt

Sisyphos Gabriele Quinque

„Was wir dunkel nennen, ist eine andere Form von Licht, die uns fehlt.“

Ein Mythos mit Tiefgang – das ist der Mythos von Sisyphos – ein Mythos für all jene, denen es gelingt, einen Blickwinkel einzunehmen, der jedes Leiden in eine sinnvolle Dimension erheben kann. Demnach haben wir einen Mythos für den Leid in Heil verwandelnden Skorpionascendenten vor uns. Der Löweascendent erfährt hier eher ein angsterregendes Wanken seines vermeintlich geordneten Weltbildes. Denn er steht in einem Quadrat zum achten Zeichen. Doch Löwe und Skorpion begegnen sich häufiger als es ihnen lieb ist. Gegenseitig können sie voneinander lernen.

Nennen wir sie jetzt einfach einmal Herrn Löwe und Frau Skorpion und belauschen wir ein mentales Geflüster von ihnen in sternenreicher Nacht. Obwohl beide tief und fest schlafen, haben sich ihre Gedankenkörper am Eingang zum Tartaros getroffen. Frau Skorpion verweilt hier fast jede Nacht, um an dem von Fackeln umleuchteten Tor zur finstersten Kammer des Hades den Wurzeln des Seins und dem Wesentlichen des Lebens näher zu kommen. Herr Löwe hingegen glaubt, sich hierher verirrt zu haben, denn diese düstere Umgebung entspricht seinem lebensfrohen Gemüt in keiner Weise. Die sumpfige Modrigkeit dieser morbiden Landschaft, verbunden mit Geruch von Tod und Verwesung, verursacht ihm ein großes Unbehagen. Olivgrün bewachsene Felsen und blauschwarze Gewässer schlucken das züngelnde Licht der blaugrün züngelnden Pech und Schwefel verzehrenden Fackeln, deren Flammen nur hin und wieder an den Spitzen rötlich aufzucken.

Herr Löwe möchte am liebsten von hier fliehen, doch irgendetwas Unbekanntes in ihm selbst hält ihn fest. Zwar fühlt er sich ziemlich unwohl, ist aber dennoch fasziniert wie nie zuvor. Frau Skorpion sieht seine Struktur jedoch in mehreren Seinsebenen gleichzeitig und weiß daher, dass Herr Löwe derzeit einen gradgenauen Plutotransit erfährt. Das heißt, er soll seinen sonnigen Savannenblick verübergehend von dem genussvollen Frönen einer alltäglichen Heiterkeit abwenden und in den Schattenwurf einer komplexeren Wirklichkeit richten.

Frau Skorpion spürt deshalb sofort ein vielversprechendes Knistern in der Atmosphäre, sie hüllt sich in geheimnisvolle Schleier, hebt den Kopf leicht an, schmälert die Augen und beschließt, den Löwen mit Hilfe von Sisyphos herauszufordern. Aufrecht und langsam schreitet sie auf ihn zu, während ihr die schwarzen Haare wie flüssige Lava um die Schultern fließen. Obwohl sich sein goldblonder Schopf zu sträuben scheint, weicht er nicht zurück. Er zeigt sich eher offen und ist wohl gespannt auf eine Begegnung besonderer Art.

„Hinter Ihnen öffnet sich das Tor zum Tartaros, wenden Sie sich um, dann sehen Sie ihn!“ Lange Einleitungen liegen Skorpionascendenten nicht. Die plutonische Frau steigt also sofort in ihr Thema ein. Herr Löwe, der oben in seinem Tagesbewusstsein komprimierte Dialoge nicht gewöhnt ist, findet das Unmittelbare sehr reizvoll und dreht sich ohne Zögern um. (Seltsam … im Oberbewusstsein würde er einem weiblichen Befehl nicht so ohne Weiteres folgen … was geschieht hier …?)

„Tiefere Bewusstseinsschichten bringen ehrlichere Verhaltensweisen hervor als die oberen“, greift Skorpion kurzerhand in seine Gedanken ein, lässt sich allerdings nicht von ihrem Thema ablenken, „sehen Sie den Mann mit dem Stein?“ Ohne eine Antwort abzuwarten erklärt Frau Skorpion: „Das ist Sisyphos, der König von Korinth. Er brachte es zu Lebzeiten fertig, mehrfach den Ratschluss der Götter zu durchkreuzen und sogar den Tod namens Thanatos in Fesseln zu legen. Thanatos vermochte keine Menschenseele mehr in die Unterwelt zu holen, folglich musste auf Erden niemand mehr sterben.

„Wie schön!“, geistert es spontan aus dem lebensbejahenden Urgrund des Löwen. Doch Madame Skorpion sieht das ganz anders: „Das Sterben gehört zum Leben wie Nacht zum Tag. Ohne Tod stirbt das Prinzip der Erneuerung. Deshalb befreite der Kriegsgott Ares den Tod wieder. Im Gegenzug wurde nun Sisyphos an Hades, den Gott der Unterwelt, ausgeliefert. Für Hades gleicht Sisyphos einem irdischen Übeltäter, der bestraft werden muss, und er verdammt ihn dazu, einen gewaltigen Felsbrocken, der Sisyphos an Größe und Schwere weit überragt, den Berg hinauf zu stemmen.

Herr Löwe holt spontan zu einem Schritt in Richtung Sisyphos aus und ruft mit sonniger Begeisterung: „Dem Mann kann geholfen werden!“
„So bleiben Sie doch hier,“ bremst ihn die Skorpionin so vehement, wie sie Löwen immer aus dem Vordergründigen zu befreien versucht, „weder brauchen Sie ihm zu helfen, noch könnten Sie es. Die Strafe beinhaltet, dass Sisyphos den Stein zwar unter Aufbietung seiner ganzen Kraft hinauf stemmen muss, doch jedes Mal, wenn er den Gipfel erreicht hat, entgleitet ihm der Stein und rollt unaufhaltsam auf demselben Weg zurück in das Tal.“

Frau Skorpion betrachtet nun sehr genau die dunklen Schatten, die über das goldschimmernde Antlitz des Löwen huschen. Lauernd wartet sie auf das, was er jetzt einwenden muss. Und er wendet es auch ein: „Das ist ja eine grausame Strafe. So gnadenlos können Götter doch gar nicht sein. Sisyphos weiß, er wird das Werk nie vollenden. Bald wird er unten im Tal sitzen resignieren und sich nie wieder von der Stelle bewegen.“

„Nein, das wird er nicht tun. Sisyphos beginnt immer wieder mit seiner Arbeit. Und – sehen Sie ihn doch einmal genau an – er ist dabei nicht unglücklich. Ja, er entflieht der Bürde nicht, zieht niemanden für seine schwierige Lage zur Verantwortung, beißt die Zähne zusammen und stemmt den Felsbrocken immer wieder auf das Neue hinauf, bis seine Last ihm nicht mehr gehorcht und zurückfällt. Dann wandert Sisyphos hinter ihm her in das Tal. Dort angekommen beginnt er damit, den Stein wieder hinauf zu befördern.“

Da atmet Herr Löwe schwer und setzt sich auf einen nasskalten Felsvorsprung dicht bei dem Eingang zum Tartaros. Seine sonst so athletischen Schultern sind eingesunken. Er reibt sich die Augen und flüstert traurig: „Wie absurd und hoffnungslos!“

„Nein, das ist es nicht. Sisyphos ist vielen Geheimnissen auf der Spur.“ Frau Skorpion öffnet den Brunnen mit verborgenen Sinngehalten.
„Helfen diese Geheimnisse ihm, eines Tages, den Stein dazu zu bringen, ihm zu gehorchen?“ So klingt es, wenn Herr Löwe auf ein gutes Ende in seinem Sinne hofft.
„Nein!“, erwidert Frau Skorpion und provoziert weiter, „für solche oberflächlichen Ergebnisse sind okkulte Enthüllungen nicht da.“
„Was nützen Sisyphos entdeckte Geheimnisse, wenn diese ihm nicht helfen, eines Tages von seiner Bürde befreit zu werden?“
„Sie helfen ihm, die überirdische Kraft für das Stemmen des Steines aufzubringen.“
„Ach!?“ Mehr vermag Herr Löwe im Augenblick nicht zu sagen.

Frau Skorpion, die extreme Belastungen seit jeher als Gnade empfunden hat, gibt Herrn Löwe folgendes zu bedenken: „Das erste Geheimnis liegt darin, dass Sisyphos an seiner Arbeit nicht verzweifelt. Im Gegenteil, er zeigt dem Gott der Unterwelt, dass er in der Lage ist, die „Überschwere“ zu bewältigen. Damit wandelt er die selbstverschuldete schicksalhafte Strafe in eine Aufgabe um. Darin liegt für ihn ein kleiner persönlicher Sieg über einen konsequent rächenden Gott, der viel mächtiger ist als er. Daraus gewinnt Sisyphos einen Teil seiner übernatürlichen Kraft.“

Der Blick des Löwen öffnet sich wieder und wird von den skorpionischen Augen seiner Gesprächspartnerin in Bann genommen, während er sagt: „Das könnte heißen, Sisyphos hat seinen Weg angenommen? Hier das Tal, dort der Gipfel und dazwischen ein Mann, der seine Last freiwillig trägt!“
„Ja genau, er stemmt den Stein mit Hingabe an eine Sache. Besser noch seine Sache! Sisyphos hat den Stein der Strafe zu seinem Stein gemacht. Das ganze Gewicht der Last gehört ihm. Er kämpft seinen einsamen Kampf mit Genugtuung, denn der Sinn seines Weges liegt in der konzentrierten Anstrengung und im Unterwegssein.“
„Das gefällt Herrn Löwe nicht: „Ein Unterwegssein ohne anzukommen ist sinnlos!“
„O nein, das ist es nicht. Wo kommt denn der Jahreslauf an, wenn er ankommt? Wo kommt die Sonne an, wenn sie ankommt? Und der Mensch, der morgens aufsteht und sich an sein Tagwerk begibt, das er abends beschließt und morgens wieder aufnimmt, wo kommt er denn an?“
„Es gibt unterwegs immer definierte Ziele, die auch erreicht werden. Das befriedigt den Menschen,“ wirft Herr Löwe ein und lächelt dazu versonnen.

Die Beamtete des Pluto reagiert therapeutisch und fragt:
„Wie lange befriedigt das Ankommen am Ziel?“
„Bis ein neues Ziel definiert wird!“
„Was unterscheidet denn das neue vom alten Ziel?“

Herr Löwe öffnet den Mund, um spontan zu antworten, doch beginnt es gleichzeitig in seinem Kopf zu rumoren. Langsam schließt er seine Lippen wieder und zieht es vor zu schweigen.

Die Skorpionin unterstützt ihn in seinen inneren Betrachtungen, indem sie verlauten lässt: „Sisyphos hat gas ganze Mysterium der Wiederholung erkannt. Er weiß nur zu gut, dass seine Vorstellung, den Stein über den Gipfel des Berges hinaus bringen zu können, in der Enttäuschung landen wird. Und ebendieses Wissen verleiht ihm Mut und Kraft für jeden Neuanfang. So paradox es auch klingen mag, Sisyphos hat mit seinem unentwegten Unterwegssein und damit, in jedem Augenblick das Höchstmögliche einzusetzen, den Schlüssel für die Meisterung des irdischen Lebens gefunden. Nun stemmt und stößt er den Felsbrocken mit Lust am Dasein auf den Gipfel hinauf und folgt ihm mit derselben Pflichterfüllung in das Tal.

Herr Löwe hebt die Augenbrauen: „Gut! Ich verstehe. Das Leben selbst ist dieser Stein. Der Stein mag für den einen schwerer oder leichter sein, aber jeder Erdbewohner stemmt seinen Stein, und er ist enttäuscht, wenn er ihm entgleitet. Das Geschenk der Enttäuschung ist die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des Lebens. Doch wo bleibt die Hoffnung für Sisyphos?“
„Die Hoffnung braucht er nicht. Er stemmt den Stein. Es ist sein Amt.“
„Aber wie lange?“
„Bis alle Menschen seine Geschichte verstanden haben.“
„Ja, gut“, der Löwe klingt erkenntnisreicher als am Anfang der Begegnung, „so lassen wir ihn unterwegs sein, den alten Sisyphos. Zwischen Tal und Gipfel vollzieht sich sein Amt im Tartaros. Gern werde ich mich in meinem Tagesbewusstsein an ihn erinnern. Wer weiß, vielleicht kann ich meinen Stein jetzt auch ganz ohne Gram bewegen.“
„Ja, vielleicht! Auf Wiedersehen, Eure Majestät“, schmunzelt Frau Skorpion, schließt das Tor zum Tartaros und zieht ihre Astralprojektion im selben Moment aus dem Hades zurück wie Herr Löwe.

Gabriele Quinque

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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