Kundrie, der bittere Kelch
Treue, Geduld und Verbindlichkeit sind
die drei wesentlichen Tugenden des
Skorpionzeichens im Tierkreis
Zu jeder Tempelarbeit im Sinne einer Gralssuche gehören wiederholte Gelöbnisse von Treue zu geistigen Zielen und Idealen. Das ganze Erkenntnisvolumen offenbart sich nur schubweise in langsamen Schritten. Das Gefäß der Einweihung bleibt für längere Zeit hermetisch verschlossen wie eine Gebärmutter bzw. ein Vas hermeticum in der Alchemie. Wer auf der Gralssuche bereit ist, in eine weitreichende Verbindlichkeit zu gehen, traut seiner Seele die Möglichkeit zu, über sehr lange Wege treu und geduldig dasselbe Ziel zu verfolgen. Ohne Gelöbnisse gerät die Seele leicht auf Abwege und findet selten, was sie sucht. Darum betont auch Wolfram von Eschenbach sehr häufig die Begriffe Treue oder Stete und meint dies viel umfassender als eine äußere Treue zu einer Person.
Das erd- und körperbezogene Stierzeichen verwurzelt sich geduldig in der sichtbaren Form, gegenüber im Skorpion jedoch nimmt die Treue seelisch-geistige Qualitäten an. Es geht hier um die Treue einem inneren Muster und einem geistigen Leitbild gegenüber. Im Skorpion beginnt die Einpflanzung einer Mysterientreue, die jedoch nur bei guter Pflege zu voller Schönheit vollendeter Selbsterkenntnis heranwächst. Wirklich in weiten Dimensionen bereit zu sein, sich geduldig als Getreuer einer Morgenlandfahrt anzuschließen, die übernatürliche Ideen verfolgt, dies gestaltet sich gar nicht so leicht, da der Schattenwurf der Sinnsuche häufig unterschätzt wird. Der unreife Mensch betrachtet sich nur oberflächlich, misst sich an seinen Taten und Gefühlen und vergisst den mutigen Blick in den Schatten seines Handelns und Fühlens.
Der Schatten
Zum Schatten wird aber all das, womit man sich auf keinen Fall identifizieren kann. Wie leicht läuft man Gefahr, hinter gelebter Heiligkeit die Scheinheiligkeit zu verbergen oder in zur Schau gestellter Demut die Macht zu verkapseln. Alles, was es gibt, kann im eigenen Reich im Schatten liegen. Schatten sind niemals die schlechten Taten, denn diese sind bereits aus dem Verborgenen herausgetreten. Schattenwurf bildet immer das Unerledigte, das im Egobild des Menschen als nicht vorhanden erscheint.
Ein großes Thema liegt in dem Erbe des elterlichen Schattens. Parzival erbt die ausstehenden Lebensaufgaben seines Vaters Gahmuret und die Naivität seiner Mutter Herzeloyde. Der fahrende Ritter Gahmuret verließ die „Weisheit Arabiens“ (Metapher für die Geheimlehre), die er in Gestalt der Mohrenkönigin Belakane geheiratet hatte. Schließlich band er sich bigamistisch an Königin Herzeloyde, die eine niedere, engstirnige Form des Christentums verkörpert. Noch bevor Herzeloyde mit Parzival niederkam, ließ Gahmuret sein Leben im Kampf.
Parzival muss nun auf dem Boden der Unbewusstheit beginnen, gleichsam dort, wo Gahmuret aufhörte: bei Herzeloyde. Anders gesagt, Gahmurets letztes Frauenbild ist Parzivals erstes. Seine Mutter Herzeloyde versucht Parzival im Instinktiven zu belassen. Sie zieht ihn in der Einöde Soltane auf, um ihn vor dem Rittertum zu bewahren, das sie selbst als hochgefährlich erlebte, da ihr Gatte in dieser Zunft umkam. Die Kinderjahre verbringt Parzival in einer Muttersymbiose, wo ihm das Hervorbringen einer Individualität untersagt bleibt. Seine Begegnungswelt beschränkt sich auf die Mutter und deren willfährige Dienstboten, und er lernt weder etwas über Männlichkeit noch Unterscheidung. Herzeloyde versucht, ihn in neurotische Verdrängungskonzepte einzuweben und legt ihm ein kindliches Welt- und frömmelndes Gottesbild nahe. Naturgemäß entwickelt Parzival als Jüngling dennoch Jagdfieber und schießt mit selbstgeschnitzten Pfeilen auf Vögel. Wenn sie dann aber tot vom Himmel stürzen, muss er weinen. Darin zeigen sich seine beiden Seiten, die männlich-kriegerische und die weiblich-mystische Veranlagung.
Frauenbegegnungen als Mittel zur seelischen Reifung
Erinnern wir uns. Als Parzival eines Tages im Wald auf eine Abordnung von vier Rittern trifft, die sich mit ihren glänzenden Rüstungen wie Boten einer anderen Welt von der natürlichen Umgebung des Waldes abheben, hält es ihn nicht mehr an Mutters Rockzipfel. Er bricht auf, um den Artushof zu suchen, wo er hofft ein Ritter zu werden. Mutter Herzeloyde gibt ihm Narrenkleider, einen lahmen Gaul von niederer Rasse und naive Ratschläge mit. Er soll das Dunkle meiden, nur durch seichte Furten reiten, keine Fragen stellen, nur dem Alter vertrauen, Ring und Kuss nehmen, sobald er einer schönen Jungfrau begegnet. So empfiehlt sie ihm ein normales Leben in der Mittelmäßigkeit, das einem Gralssucher schlecht zu Gesichte steht.
Mit den unbrauchbaren Ratschlägen seiner Mutter lädt Parzival Schuld auf sich. Um eine höhere Bewusstheit zu erlangen, trifft er etappenweise auf Frauen, die jeweils Ausdrucksformen seiner seelischen Qualität verkörpern. Sie veranlassen zunächst den notwendigen Prozess irdischer Verwicklung (Involution) und fördern danach die Entwicklung (Evolution). Von der schönen Jeschute stiehlt er noch, was er zum Leben braucht, indem er ihr einen Ring und eine Spange entwendet und ihr einen kindlichen Kuss aufdrängt. Dass die Frau durch ihn in Ungnade bei ihrem Gatten fällt und von diesem sehr gedemütigt wird, dringt zunächst nicht in seine Wahrnehmung. Durch seine Base Sigune erfährt er danach seinen Namen Parzival, der „mittenhindurch“ bedeutet. Seine erste Ritterrüstung nimmt Parzival unrechtmäßig in Besitz, indem er den roten Ither unritterlich, also ohne fairen Kampf, durch das Visier zu Tode sticht. Erst nach der Belehrung durch seinen weltlichen Lehrer Gurnemanz erhält Parzival den echten Ritterschlag und erlangt damit auch die Reife, einer Frau als ganzer Mann begegnen zu können. Königin Kondwiramur (Führerin zur Liebe) entschleiert schließlich den schönen Seelenaspekt von Parzival, den er sogleich erkennt und sich naturgemäß in ihn verliebt. In den Armen Kondwiramurs wechselt er aus der Körperlichkeit von Widder, Stier und Zwillinge in den seelischen Bereich des Krebses. Nachdem er jedoch mit ihr Hochzeit gehalten und sie ihn zum Herrscher über ihr Reich erklärt hat, spürt er, dass er in einer trauten Familienidylle, und sei es eine königliche, seinen wahren Lebensauftrag verpassen könnte. Also zieht er wieder in die Welt hinaus.
Die versäumte Frage auf der Gralsburg
Nun erlebt er das Weibliche noch von einer anderen Seite, denn er gelangt in die Mondenwelt von Trance und Traum. Ein ganz neuer bislang unbekannter mystischer Raum eröffnet sich ihm: Montsalvat, die Gralsburg, die Burg der Eingeweihten. Was ihm dort widerfährt, erweitert das innere Erleben um ein Vielfaches und prägt entscheidend sein Lebensziel.
An einem See trifft er auf den Fischerkönig Amfortas, den kranken Hüter des Grals, und wird von ihm auf die Gralsburg eingeladen. Dort empfängt man ihn in höchster Gastfreundschaft. Die Gralsträgerin Repense de Schoye verleiht ihm einen Mantel von Purpur und Gold, den er anlässlich einer rituellen Speisung tragen darf. Parzival erblickt die Schönheit des Gralstempels, vermag die Größe des ihm innewohnenden Segens aber aus Mangel an Erfahrung nicht abzuschätzen. In einer feierlichen Prozession wird er sogar Zeuge des Grals, (bei Wolfram von Eschenbach ein heiliger Stein). Den Gral trägt Repense de Schoye als verschleierte Kostbarkeit auf einem smaragdgrünen Kissen durch den Tempel, den Wolfram vorsichtig als Palast bezeichnet, um nicht in Verdacht der Ketzerei zu geraten. Ebenso schreitet ein Ritter mit einer blutigen Lanze feierlich im Kreis. Parzival hat seinen Platz neben dem kranken Gralshüter Amfortas eingenommen. Er sieht den Unglücklichen an einem Kamin sitzen, in Decken gehüllt, unsagbar leidend und dennoch von dem ganzen Hofstaat verehrt.
Hier müsste Parzival während des Rituals die Frage stellen: Was fehlt Euch? Aber Parzival weiß nicht um die Priesterlichkeit, die ihm auf der Gralsburg abverlangt wird. Woran der Gralshüter leidet, interessiert ihn durchaus, er traut sich aber nicht, einfach seiner Wissbegierde zu folgen. Das ist richtig, denn neugierig darf er tatsächlich nicht fragen. Seine Frage müsste hier eine rituelle Mysterienfrage voller Tragweite sein. Aber Parzival wurde in sein okkultes Amt noch nicht eingeführt, weshalb ihm diese Form der Fragestellung fremd ist. Alles, was er an Pracht vor Augen geführt bekommt, übersteigt sein Fassungsvermögen. Darum erlebt er das sakrale Geschehen als etwas vollkommen Unbekanntes, das er mit nichts bisher Erlebtem vergleichen kann. Wie soll er deshalb ahnen, dass er als Besucher, als Fremder, ja als Eindringling, eigentlich einen Part darin zu übernehmen hätte? Woran soll er am Anfang seines Weges erkennen, dass es seine Berufung ihm gebietet, die erlösende Frage nach dem Schatten zu stellen? Parzival weiß noch nichts von der alchemistischen Symbolik des kranken Königs und seiner Erneuerung in einem Jüngeren. Weder Gurnemanz noch König Artus sprachen mit ihm über solche Dinge. Darum blieb ihm die Welt von Magie und Mystik bislang verschlossen, und das kultische Frauenbild einer Hohenpriesterin erreicht ihn an dieser Stelle noch nicht. Sogar als ihm die Frage in den Mund gelegt wird, indem ihm der kranke König persönlich ein Schwert überreicht, von dem er sagt, er habe dies selbst im Kampf getragen, bevor ihn Gott mit der schweren Wunde heimsuchte, fließt nicht das Sterbenswörtchen einer Frage über Parzivals Lippen.
Am Ende des Rituals spürt er schon eine gewisse Trauer im Palast. Aber etliche Bedienstete kümmern sich noch um sein leibliches Wohl. Doch am anderen Morgen wird es ganz offensichtlich: Ein Schwanenritter ist er nicht geworden. Niemand bemüht sich mehr um ihn. Weder Knappen noch Jungfrauen eilen ihm zu Diensten. Alleingelassen zieht er seine Rüstung über, und nachdem die Burg wie ausgestorben wirkt, reitet er aus dem Burgtor heraus, während ein Knappe hinter ihm herruft: „Ihr seid es nicht einmal wert, dass Euch die Sonne bescheint. Ihr seid eine Gans. Hättet Ihr doch Euren Schnabel aufgetan und den Burgherrn nach seinem Leid gefragt. Ruhm und Ehre habt ihr verspielt.“ Diese erste verbale Bekundung von Missfallen nach seinem Besuch auf der Gralsburg erreicht Parzival nur an den äußeren Ohren, er reagiert zornig, verlangt Aufklärung über diesen Vorwurf, aber kein Wort dringt mehr aus der Burg. Da zieht er betrübt weiter.
Später begegnet er Sigune, die sich zunächst überglücklich zeigt, zu erfahren, dass er Gast auf Montsalvat war und den Oheim nach seinem Leiden befragt habe, dann aber jäh in das Gegenteil verfällt, als Parzival ihr eingesteht, er habe diese Frage nicht gestellt. Sigunes Flüche: "Wehe mir, dass Ihr mir je unter die Augen kamt. Zwar lebt Ihr, doch Euer Glück ist tot.", erreichen nun tiefere Schichten seines Wesens und er beginnt Reue zu spüren. Der Gralsbesuch fand im Tierkreiszeichen des Löwen statt, die Reue beginnt vor Sigune im Thema der Jungfrau. Der Wechsel in den dritten Quadranten des Tierkreises geschieht durch drei Blutstropfen im Schnee, die wie eine Tranceinduktion auf Parzival wirken und ihn im Zeichen der Waage an die Liebe zu Kondwiramur erinnern. Die Schattenarbeit beginnt: Jetzt erst fühlt er selbst den furchtbaren Schmerz, den er ihr zufügte, indem er nach der Hochzeit von ihr ging.
Sein Weg führt ihn nun an den Artushof, wo man ihn herzlich in der Runde der Ritter willkommen heißt. Doch es ist wundersam, denn was er sich am Anfang der Geschichte gewünscht hätte, einen Platz an der runden Tafel des Artus einzunehmen, lockt ihn jetzt nicht mehr. So glänzend ihm diese Welt auch einmal erschien, jetzt wirkt sie abgestumpft. Die Tafelrunde spiegelt nur noch als äußerer Repräsentant die Ausformung seines Egos wider. Obwohl er in dem Ritual auf der Gralsburg nicht verstand, worum es eigentlich ging, ist es ihm danach nicht mehr möglich, lediglich der sichtbaren Welt anzuhaften. Parzival überblickt nun größere Dimensionen als alle anderen Ritter. Darum entlarvt sich seiner Seele die Verlogenheit und Einseitigkeit am Artus-Hof. Aber seine Ich-Kraft erfasst dies zunächst noch nicht. Dennoch braut sich ein unleugbares Unbehagen in ihm zusammen, gleich einer Bombe, die sich mit Gewalt entladen möchte.
Die machtvolle, verwandelnde Kraft des Skorpions
und die ambivalenten Bilder des Schattens
In der Folge seines neuen geistigen Horizontes wird sich für ihn ein Wechsel aus den leichten Waage-Prinzipien in die Schwere der Skorpion-Landschaft vollziehen, ohne Übergang, von einer Sekunde auf die andere. Eschenbach ergeht sich an der Grenzscheide der Prinzipien ganz besonders in der oft schon zitierten Schönheit Parzivals, als wolle er die Waagequalität seines Helden noch retten. Mannesstärke und Jugendschönheit vereinen sich in Parzival. Ob Mann oder Frau, jeder Mensch fühlt sich zu ihm hingezogen. Nur leider kann Parzival die ehrenvoll bewundernden Blicke nicht lange genießen, denn ein verhängnisvoller Zwischenfall ereignet sich. Schön erscheint Parzival nur außen in seiner edlen Gestalt, aber seine verborgene Triebnatur ist noch ungeläutert, beherrscht von niederen Instinkten, angefüllt von Unbewusstheit. Um dem Gral näher zu kommen, bedarf es nun einer radikalen Ausmerzung unseliger Gemütsanteile.
In der Fluchbotin Kundrie muss Parzival die ungeliebten Anteile seiner selbst konfrontieren. Die Lüge soll sich von der Wahrheit scheiden, anders ist der Gral nicht zu erlangen. Kundrie spiegelt den ungereinigten Seelenanteil wider, den seine unbewussten Leidenschaften entstellen. Die Schattenträgerin Parzivals kommt auf einem mageren Maulesel an die königliche Artustafel geritten. Das Reittier ist hochbeinig, dürr, schlitznasig, von Brandmalen verunstaltet. Im Gegensatz zu dem unschönen Tier sind Zügel und Zaumzeug kunstvoll gearbeitet und kostbar verziert. Dieser Maulesel erinnert an die lahme Mähre, mit der Herzeloyde ihren bon fils, ihren guten Sohn, einst in die Welt entlassen hat. Jetzt wird es offenkundig: Das Reittier symbolisiert die unfertig gebliebene Weltanschauung Parzivals; diese ist noch nicht erhabener geworden, seit er das kostbare Pferd des roten Ither stahl. Doch immerhin hat er sich mittlerweile „gutes Zaumzeug“, also äußere Werkzeuge, erarbeiten können.
Die Reiterin wird ebenfalls zwiespältig beschrieben, einerseits ist sie hässlich, andererseits jedoch edel gekleidet und sehr gebildet. Sie beherrscht Latein, Arabisch, Französisch und ist bewandert in Geometrie, Astronomie und in der Kunst wissenschaftlicher Gesprächsführung. Kundrie trägt ein Kleid von edler Seide mit einem feinen Kapuzenmantel darüber, ganz blau wie Lasurstein. Ein Pfauenhut mit golddurchwirkter Seide gefüttert hängt an einem Band auf dem Rücken.
Die Pfauenschweife am Hut verweisen sowohl auf die tiefgreifende Verwandlung, die ihr Erscheinen mit sich bringt, als auch auf die Eitelkeit Parzivals, die jetzt nicht mehr verbergen kann, welche Hässlichkeit ihr innewohnt. Ein langer Zopf, schwarz und spröde wie Schweineborsten, hängt bis auf den Rücken des Maultieres herab. Er verrät die Schlechtigkeit von Parzivals Triebseele, sie ist abgestumpft, wenig fein, spröde, trocken. Kundries Nase ist die eines Hundes, aus ihrem Mund ragen zwei große Eberzähne spannenlang hervor. Parzival schnüffelt demnach überall herum, aber nur am Boden, eben wie ein Hund. Der Eber gilt symbolisch als wüstes Ich-Tier und verrät die Dominanz der primitiven Triebe. Wimpern hat Kundrie so dick, dass Zöpfe daraus gebunden werden müssen, die sich bis zum Haaransatz hochbiegen. Im Innern ist Parzival noch nicht besonders lieblich anzusehen. Außerdem besitzt Kundrie Ohren wie ein Bär. Das heißt, die Intuition, das feine Gehör, ist bei Parzival noch zu sehr blockiert. Das Gesicht der Fluchbotin weist nichts subtiles Sinnliches auf, wirkt nur abstoßend und hässlich. So offenbart sich der innere Schatten der äußeren Schönheit Parzivals. Die Hände erscheinen faltig wie von Affenhaut mit langen Fingernägeln, so schmutzig wie Löwenklauen. Die Handlungen der Triebseele erweisen sich demnach immer unsauber und egoistisch, dies lässt sie so „affig“ wirken. Kundrie, diese Quelle der Trauer, dieses Grab allen Frohsinns, reitet in den Rittersaal und zerstört die Eintracht der Tafel, macht Schluss mit Heuchelei und Lüge, stößt den Stachel des dreizehnten Skorpion-Gliedes in das träge Fleisch, um die Seele zur Umkehr zu zwingen.
Richard Wagner nennt seine "Kundry" in der Oper "Parsifal" das Ur-Frauenzimmer und bringt sie mit dem Sagenkreis der Heilkunde, mit der Hexe, der weisen Frau, dem Luder und der Teufelin in Verbindung. Wagner lässt „Kundry“ eins werden mit der stolzen Orgeluse (franz. Stolz), der Hochmütigen, und mit Sigune, die den toten Ritter trägt.
Beide Frauenfiguren sehnen sich auf ihre Art nach Erlösung. Höllenrose nennt er die Fluchbotin des Grals in der Umkehrung von Maria, der Himmelsrose. Die Fluchbotin des Grals sollte trotz all ihrer Schrecklichkeit geliebt werden, damit sie aus ihrem Bann befreit werden kann, um ihre wahre Schönheit zu offenbaren. Kundrie gleicht dem Schatten, der immer nach Liebe verlangt und heimkehren möchte in das Bewusstsein des Menschen. Schimpfend ergießt sich Kundries Rede wie ein tosender Wasserfall über Parzival, ihr Redestrom versiegt nicht so schnell, wenn sie ihn einmal in Fluss gebracht hat. Alle Freude macht sie zunichte mit ihrer höllischen Anklage.
Die Metaphysik der Blamage
Das Schlimmste ist, Kundrie beschuldigt Parzival zunächst nicht persönlich, sondern gleich die ganze Tafelrunde, indem sie König Artus anspricht. Das Ansehen seiner Tafelrunde sei zunichte, so schimpft sie, da Parzival als Unehrenhafter unter den berühmtesten Edelleuten an der Tafel weile. Der Ruhm der Ritter ginge dahin, weil man Parzival aufgenommen habe, der nur äußerlich wie ein Ritter aussehe, aber Blut an den Händen trüge wegen der ehrlosen Tötung des roten Ither. Und dann wendet sie sich Parzival zu und schreit ihn an: "Ihr seid schuld daran, wenn ich König Artus und seinem Gefolge keinen freundlichen Gruß sagen kann. Schande über Eure glänzende Schönheit und über Eure männliche Stärke." Nach diesen einleitenden Worten singt Kundrie ihr langes Klagelied und spart an keiner Stelle mit heftigen Anschuldigungen.
Kundrie benutzt die Scham, die peinliche Bloßstellung als Mittel zur Läuterung, indem sie anfänglich nicht Parzival sondern König Artus tadelt. Eine solche "Metaphysik der Blamage" hat derjenige auszuhalten, der erkennen soll: Er ist eins mit dem Ganzen. Andere Menschen, die ausnahmslos Anteile seiner selbst verkörpern, müssen alles über ihn erfahren. Der Eingeweihte lernt dadurch auf ungesunde Mechanismen egoistischer Abgrenzung zu verzichten, sein Wesen verströmt sich ehrlichen Herzens bis in seine Mitwelt hinein. Der Ungeweihte verfährt gegenteilig, er versucht Zeit seines Lebens alle Fehler zu vertuschen, schämt sich zu sehr und hält eine offen dargelegte Schande nicht aus. Menschen, die Popularität erlangt haben, sehen sich oft entblößt und blamiert, zu Recht oder Unrecht. Aber darin liegt nun einmal das Unterpfand der Vereinigung mit dem Rest der Welt. Niemand kann aus dem namenlosen Meer der Masse herausragen, ohne den gnadenlosen Be- und Verurteilungen seitens seiner Mitmenschen ausgeliefert zu sein. In der Entblößung seines Charakters liegt für Parzival ein erstes Zeichen seiner Berufung zum Gralskönig. So unangenehm dies am Anfang für ihn auch sein mag, allein daran reift er heran. Weil er durch die Bomben, die im Außen in seiner Nähe platzen, wie in einem magischen Spiegel erkennen kann, dass das, was er verströmt, noch nicht überall Weisheit, Selbstlosigkeit und Liebe ist, solange ihm Torheit, Egoismus und Herzensträgheit im Schattenspiegel von Kundrie vorgehalten werden. Indem Kundrie die Schönheit und Potenz Parzivals zu Schanden bringt, landet sie gleich zwei Tiefschläge in die Eitelkeit Parzivals. "Könnte ich bestimmen, wer in Ruhe leben soll, Euch würde ich es nicht gestatten." Dieser „Kundrie-Segen“ ist etwas sehr Schönes, sofern man ihn richtig einordnet. In Ruhe leben führt nämlich nur zum trägen Einschlafen und ist eines Gralssuchers nicht würdig.
"Widerwärtig erscheine ich Euch bestimmt, doch seid Ihr selbst noch hässlicher als ich,” so quält die Fluchbotin ihren Schützling weiter und beschreibt seine Triebseele, die er sich anzuschauen hat. Weiterhin tadelt sie ihn, er hätte Mitgefühl für das Leiden des Amfortas zeigen müssen. Deshalb seien jetzt sein Ansehen und die Mannesehre völlig dahin, und kein Arzt könne ihm noch helfen. Wie wahr, der Arzt ist in den Tempelhallen, in denen die Mysterientherapie ihren Lauf nimmt, schon längst nicht mehr zuständig. Auch der soziologisch geprägte Psychologe unserer Tage versteht hier selten, was wirklich geschieht; kann er doch weder Tiefe noch Höhe der wunderbaren Grals-Apokalypse ausloten, da sie erst mit dem religiösen Streben nach dem ewigen Leben ihren eigentlichen Sinn erfüllt.
"Ihr trügerischer, gefährlicher Lockköder, Ihr giftgefüllter Natterzahn, Ihr wart es nicht wert, dass Euch der Burgherr das Schwert schenkte. Als Ihr es annahmt und immer noch stumm bliebet, habt Ihr eine Todsünde auf Euch geladen. Ein Spielzeug der Teufel seid Ihr, abscheulicher Herr Parzival", so rauft Kundrie heftig mit dem Selbstwertgefühl des Geplagten.
Auch der nächste Vorwurf trifft mitten in das aufgewühlte Herz des Blamierten. Kundrie lobt Gahmuret, den Vater Parzivals, als großartigen Ritter. Ihre Litaneien gipfeln in der Aussage, Gahmuret sei treuer gewesen als Parzival, obwohl gerade er die Stete nicht fand, wie es bei Eschenbach heißt. Aber, so stellt es Kundrie dar, als Sohn Gahmurets hätte er ehrenhafter handeln müssen. Zwischen ihren Anklagen weint und jammert Kundrie heftig, bis sie sich von Parzival abwendet und die ganze Ritterschar auf Schastelmarweile hinweist. Sie berichtet von dem Wunderschloss, das den Schattenwurf von Montsalvat bildet. Vier Königinnen und vierhundert Jungfrauen, die des Anschauens Wert seien, gäbe es dort und man könne alle nur erdenklichen Abenteuer auf Schastelmarweile erleben. Wer sie bestünde, diene auf rechte Art um der Liebe Willen. Damit erlegt sie Parzival Exerzitien auf, teilt ihm gleichsam durch die Blume mit, was er tun müsse, um den Schaden der Unbewusstheit zu beheben.
Im Anschluss daran verlässt sie den Raum so geschwind, wie sie gekommen ist, nicht ohne noch im Davoneilen lauthals zu jammern, Montsalvat sei ein Ort tiefster Not und niemand könne nun mehr helfen.
Parzival bleibt verständlicher Weise zerknirscht zurück. Aber Wolfram von Eschenbach stellt die Berufung Parzivals in dem nachstehenden Zitat unter Beweis, zeigt er doch darin auf, dass Parzival die Reife für die Kundrie-Läuterung durchaus mitbringt: Die hässliche, stolze Zauberin Kundrie hatte Parzival in große Bestürzung versetzt. Nichts half ihm der Rat seines tapferen Herzens, nichts seine ritterliche Erziehung und seine Mannhaftigkeit. Doch außer diesen Eigenschaften besaß er die Fähigkeit, sein Handeln selbstkritisch zu überprüfen, so dass er stets rechtzeitig auf den rechten Weg kam. Solche Haltung findet ihren Lohn in der Hochachtung der Menschen, sie ist die schönste Zierde der Seele und die höchste aller Tugenden.(W. von Eschenbach)
Die edle Frau Kunneware will ihm noch Trost spenden. Aber Parzival braucht den Trost von außen nicht mehr, er will nur den Gral wieder finden, von ganzem Herzen ausgleichen, was er versäumt hat. Also bricht er nach diesem Vorfall mit Kundrie auf und verlässt den Artushof mit dem berühmten Treueschwur dem Gral gegenüber:
Ob nah oder fern die Stunde sei,
in der mir vergönnt sein wird den Gral wiederzusehen,
bis dahin werde ich keine Freude mehr finden.
Zum Gral gehen alle meine Gedanken.
Nichts wird mich mehr davon abhalten, solange ich lebe.
Diese leidenschaftliche Leistung eines Gelöbnisses entspricht den höheren Weihen des Skorpionzeichens. Ein solcher Schwur heftet sich wie ein heiliges Siegel an die Seele und rettet sie vor dem Zugriff dämonischer Gewalten. Dieses Gelübde ist nun der Zweck, der Kundries Mittel heiligt. Denn nur wer strebend sich bemüht, den können die himmlischen Kräfte erlösen. Deshalb ist Kundrie eine Gesandte des Grals, die sowohl auf Montsalvat (Heilsberg) als auch auf Schastelmarweile (Wunderschloss) zu Hause ist. Mit ihrer heftigen Klage gelang es Kundrie, Parzivals Triebseele zu läutern und ihr Restlicht bis in die Leibseele hinein zu retten. Sie öffnete durch ihre Klage sein Herz für die einzige Wahrheit seines Lebens und wies ihm den Weg zurück zum Gral, wo er die erlösende Frage stellen wird: Was fehlt Euch, Oheim?