Amfortas, der Gralshüter

Der Gral

Der Gral stellt ein Synonym eines komplexen Mythologems dar. Manchmal ist er ein Kelch, bisweilen ein Stein. Als archaischen Vorgänger gibt es den Kessel bzw. Geburtskessel, aus dem die so genannte Zweite Geburt hervorgeht. In welcher Form der Gral auch erscheint, er vollbringt überirdische Wunder, indem er Krankes zu heilen vermag, Zerbrochenes zusammenfügt und Hungriges nährt. Vor allem seine Unfassbarkeit durch die fünf Sinne verleiht dem Gral die Aura höchster Mystik und bietet somit Anlass weitschweifender Spekulationen. Die Mysterienfrage: »Wem dient der Gral?« bildet das initiatische Kernstück der Legenden rund um den Gral. Natürlich gibt es eine ganze Reihe vorläufiger Antworten darauf. Um jedoch dem wahren Geheimnis auf die Spur zu kommen, muss man selbst zum Gralssucher werden. Machen wir uns also gemeinsam auf den Weg, liebe Leser. Ganz einfach wird dies nicht werden, heißt es doch, sich mit Berechtigung auch Gralsritter, Gralskünder, Gralsträger und Gralskönig nennen zu müssen. Wo fängt man da an? Und wie?

Zuerst empfiehlt es sich, die überlieferten Mythen in Struktur und Metapher kennen zu lernen, um sie hernach in den Bezug zum eigenen Weg setzen zu können. Mythen haben stets einen doppelten Sinn; sie bieten zunächst eine spannende Unterhaltung, damit sie sich unter den Menschen verbreiten. Der wichtigste Grund liegt jedoch darin, uraltes Geheimwissen in einer Weise zu transportieren, die von der Seele (wieder-) erkannt wird. Jeder Mythos zeigt die Erfahrungsstruktur auf, in der ein Mensch zuerst den Involutions- und danach den Evolutionsweg zu erfüllen hat. 


Mythen, Legenden und Märchen beginnen stets
auf der Stufe der Unbewusstheit,
führen über etliche Prüfungen in ein Reifungselend,
erfahren Katharsis, münden in höherer Erkenntnis
und erlangen schließlich vollständige Bewusstheit,
das vorsätzliche Erwachtsein in allen Welten.


Mythen führen demnach mitten in das schicksalsverwickelte Leben hinein und nach den notwendigen Erfahrungen wieder hinaus. Das Deuten von überlieferten Mythen erfordert den Mut, einen Sprung über den Zaun der bisherigen Weltanschauung zu wagen. Liest man sich geduldig durch die zahlreichen Gralsinterpretationen, dann fällt auf, wie viele Bewusstseinsebenen für die nach Einsicht strebenden Menschen möglich sind. Eine der besten Jungianerinnen schreibt vierhundert Seiten voller Verständnis für die Individuationen der menschlichen Seele und kennt alle mythischen Verzweigungen, aber sie beweist ihr Blindsein für initiatische Gesetze, sie kennt den Abyssos vom Hörensagen, überfliegt aber selbst den Abgrund nicht. Über diesen erhebt sich jedoch ein anderer (K.O. Schmidt), der nur ein winziges Büchlein im Westentaschenformat hervorbringt und gerade deshalb, weil er das Größere Licht im Gral mit jedem Wort aufzeigt, alles Tiefenpsychologische unerwähnt lässt. Wohl geschieht dies in der richtigen Erkenntnis, dass derjenige, welcher von dem Rituellen ausreichend gefunden wurde, keine psychische Betrachtung mehr benötigt. Jenem heiligen Gefundenhaben muss aber das suchende Unterwegssein der menschlichen Seele voraus gegangen sein.

Machen wir uns also gemeinsam auf, die erste Etappe des überlieferten Gralsweges zu beschreiten. Folgen wir den Minnesängern in den waffenlosen Krieg gegen die Geistlosigkeit. Das Einzige, was wir dazu brauchen, sind unsere denkenden Köpfe und die erkennenden Herzen.


Wer ist der Gral?
Das sagt sich nicht;
doch bist Du selbst
zu ihm erkoren,
bleibt Dir die Kunde
unverloren.

Parsifal, Wagner


Der Gralsmythos erlebt seine Hochform ca. tausend Jahre nach Christi Geburt. Richten wir unser Augenmerk in diese Zeit, so erkennen wir, wie jene Dichter und Künstler, die einen Hang zur rituellen Magie haben, sich ungefähr in der Mitte des Fische-Zeitalters mit Vorliebe dieses Stoffes bedienen. Der Grund dafür mag in ihrer Befürchtung liegen, der Katholizismus könne allzu buchstabengetreu werden; man hegt die Angst, der Klerus verkenne vielleicht eines Tages die hochmagischen Inhalte der Heiligen Messe und hielte sich nicht mehr richtig an die tradierten Richtlinien einer solaren Religion. In der Tat beauftragt Papst Gregor im Jahre 1231 den Dominikanerorden mit der Durchführung der Inquisition (lat. Untersuchung). Bestand vorher das Erbe Christi darin, den feurigen Geist der Sonne in der Menschheit aufleuchten zu lassen und das Lunare damit wohlwollend zu überstrahlen, so werden die Verantwortlichen eines Tages selbst lunar, da sie die der Natur zugewandten (sprich: weiblichen) Anteile der Welt in einem irdischen Feuer als Hexe verbrennen, anstatt sie mit Heiligem Geist zu erleuchten. Für die inquisitorischen Morde liegt kein himmlischer Auftrag vor, sie entspringen lediglich dem Zugrundegehen des magischen Verständnisses seitens der Kirchenmänner, weshalb später die Vernunft wieder siegen wird. Doch die Mitte des Fische-Zeitalters gehört zu den Phasen der großen Irrtümer in der Kirchengeschichte. Und es bedarf keiner prophetischen Gabe, zu mutmaßen, wie sehr derart grobe Vergehen gegen die Menschenwürde eine Reformation nach sich ziehen würde, die eine noch umfassendere Säkularisierung auslösen würde. Wen wundert es also, wenn die Dichter, die der Reformation zwei Jahrhunderte vorausgehen, alles in Bewegung setzen, frühzeitig eine Gegenreform zu starten. Mit einfühlsamer Süffisance gelingt es den Geschicktesten unter den Künstlern, das Christentum zu korrigieren, ohne die Aufmerksamkeit des Klerus in gefahrvoller Hinsicht auf sich zu lenken. Die seinerzeit verfassten Gralslegenden erwecken in der Sprache einen grundsätzlich christlichen Eindruck, lehnen sich aber doch im Inhalt mehr an den Artussagenkreis der keltischen Magie an. Da die Minnesänger Gralspforten öffnen, die auf den ersten Blick in romantische Geschichten führen, hält das solare Wissen wieder Einzug in das Herz des Volkes. Hinter kunstvollen Gespinsten aus seidigem Frauenhaar und blutverklebten Lanzen verbergen die minniglichen Verse echte Gnostik. Die damalige Kirche ist zu sehr beschäftigt mit dem Erteilen von Verboten und der Verfolgung derer, die sie brechen, weshalb ihr das »öffentlich’ Geheimnis« der Gralsdichtung unoffenbart bleibt. Aber wer im Lande sehen will und kann, der sieht auch das Besondere im Gralsmythos.

Amfortas

Der Gral selbst ist in jedem Fall ein weibliches Symbol. Christlich gesprochen, ruht in ihm das Blut, das aus der Wunde des Gekreuzigten floss, die Longinus mit der Lanze schlug. Eine christliche Legende besagt, Joseph von Arimathia, ein Mitglied des Hohen Rates von Jerusalem, ließ es in den Kelch hineinfließen. Das Blut Christi heiligte dieses Gefäß und es bekam für immer den Namen Heiliger Gral. Wenn der Kelch die Seele darstellt, dann sorgt das echte Erlöserblut darin für die Vergeistigung der Seele in Ewigkeit. Nach diesem Mysterium strebt der Gralssucher. Er sucht also nicht bloß nach seiner persönlichen Seele, er will sich vielmehr mit der einen großen Allseele der ganzen Schöpfung vermählen. Deshalb lässt sich Gralssuche nicht allein durch die Psychologie erklären. Wahre Gralssuche muss Religion im besten Sinne sein.

Blut im Kelch – das formuliert man in der theoretischen Kabbalah folgendermaßen: Geburah schlägt die Wunde, und der Ritus von Chesed heilt die Verletzung. Mit dem Motiv der Wunde befinden wir uns im Mittelpunkt des Gralsmythos. Weder König Artus noch Parzival könnten für uns wichtig sein, geschweige denn einen tieferen Sinn erfüllen, wäre da nicht der wahre Gralshüter verletzt, krank und schwach. Erst durch ihn wird Parzival zum Suchenden und vollendet seinen Weg im Finden des Grals.

Der verwundete Gralshüter fristet sein Dasein auf der Erlöserburg »Montsalvat« (lat. mons, Berg, salvatio, Rettung, Erlösung). Dieser Heilsberg existiert weder historisch noch geographisch, er und die heilige Burg können nur im Bewusstsein und durch eine besondere Gnade gefunden werden. Ist jemand zum Gral berufen, so wird Montsalvat für ihn auf einer inneren Ebene erfahrbar. Aber leider ist auf der Gralsburg nicht alles in Ordnung. Der dunkle Schmerzensschleier des Krankseins liegt bedrohlich über der geistigen Pracht des Ortes.

Der Gral befindet sich in dem Besitz des Burgherrn, er wird zu rituellen Anlässen von der Gralsträgerin gezeigt und schenkt alle erdenkliche Nahrung. Dennoch gelingt es der Gralskraft nicht, das Unheilsein seines Eigentümers zu beseitigen. Warum ist das so? Die Antwort ist einfach. Der Gralshüter verlor die Resonanz zu der Kraft des Grals, sein Zustand ist nicht mehr rein, nicht heil, eben nicht erlöst, wie er dem Namen seines Domizils gerecht würde. Und wer nicht erlöst ist, der braucht einen Erlöser. 

Auf diesen wartet der Burgherr, nach ihm sehnt er sich. Der Name des Kranken ist Amfortas, bzw. Anfortas. Im Englischen heißt »unfortune« Unglück. Schreibt man diesen Namen Amphortas, gesellt sich die Amphore hinzu; sie stellt das bekannteste Gefäß der Antike dar. Amphoren sinken auf den Grund des Meeres und werden von jenen gesucht und gehoben, die einen romantischen Hang zu allem Vergangenem haben. Auch Amphortas symbolisiert auf vielen Ebenen das Alte und Vergangene. Er verkörpert das innere Selbst im Menschen, den kosmischen, uralten Gottesfunken, der durch die Geburt in Zeit und Raum eingekerkert wird, sogar verletzt oder zerstückelt. Dieser gleicht dem gefangen Osiris, den die stofflichen Kräfte knechten und der eines Erlösers bedarf. Dieser muss selbst in den Fängen der Materie gelitten haben und es geschafft haben, sich zu läutern.

Bezogen auf das oben angesprochene Problem der Kirche, lässt sich in Amfortas das Prinzip christlicher Religiosität erkennen. Dieses ernährt sich – wie der Burgherr – von der Hostie über dem Kelch, also gleichsam von dem Heiligen Geist über dem Gral. Aber es gab eine Zeit, da vergaß Amfortas den Gral in seinem Herzen und verliebte sich in eine Schöne namens Orgeluse. In der Parzivaldichtung von Wolfram von Eschenbach kämpfte er für die Minne der Frau, bis ihn die Lanze eines Heiden in die Hoden traf und ihn dort verstümmelte. Da die Spitze der Waffe vergiftet war, heilte die Wunde nicht. Die Verschuldung des Burgherrn symbolisiert die Verweltlichung des Christentums, das seinen wahren Platz, eben den »Heilsberg«, an der Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits zu der Zeit der Gralslegenden verlassen hatte und sich zu stark der Äußerlichkeit zuwandte. Ebenso wie Amfortas durch die Wunde zu keiner Zeugung mehr fähig ist, vermag eine verweltlichte Religion den Christusimpuls nicht mehr kraftvoll genug weiterzugeben. Für einen Gralshüter muss der Innere Gral »Frau« genug sein. Er soll den Archetypus, das platonische Universal des Weiblichen, finden und diesem himmlischem Kelch auf Erden dienen. 

Für die Kirche heißt dies, der Welt den Glanz der Monstranz bewahren zu müssen und sie mit solarem Geist zu überstrahlen, anstatt sich selbst lunar und engstirnig zu geben und sich den Erdkräften zuzuwenden. Darum schmerzt die Wunde des Amfortas sowohl bei Neumond als auch dann, wenn das Saturnprinzip sich mit Frost und Eis ankündigt. An Neumond hat die dunkle Macht der Natur das Sagen, und in Schnee und Eis lebt das reine Gesetz Saturns. Beide weiblichen Prinzipien – Wasser und Erde – erinnern den Kranken an seine irdische Schuld. 

Zur Linderung dieses Leidens wird die blutende Lanzenspitze in die eiskalte Wunde eingeführt, bis diese erneut blutet. Die Lanze und das Blut sind symbolisches Feuer. Leider lodert dieses nicht mehr im Herzen des Amfortas, er ist kein getreuer Amtsträger mehr. Ihm fehlt die Begeisterung, er ist von dem Geist abgerückt, er hat sich von dem Heiligen entfernt. Auch Christus blutet am Kreuz, sein Herz aber bleibt dem Himmel zugewandt, da er über die Versuchungen durch die Widersacher zu triumphieren vermochte. Amfortas, der im Tempel der Gralsburg umgeben ist von je vier Rittern auf hundert Kissen, wird sinnbildlich auch in der Materie gekreuzigt, denn die Zahl 400 steht für den hebräischen Buchstaben Tav (Kreuz). Amfortas wird jedoch keine Auferstehung zuteil. Er stagniert auf seinem Weg. Seine Kreuzigung dauert gleichsam zu lange. Denn durch seine ungerechtfertigte Minne zu einer irdischen Frau erfüllt er die zölibatäre Anforderung seines Amtes nicht mehr. Nur das Fischen im See hilft dem kranken Gralshüter ein wenig über den Schmerz hinweg, aber er fängt dabei so wenig, dass die magere Beute noch nicht einmal ihn allein sättigen könnte. Die Jesusworte »ihr sollt Menschenfischer sein« verliert an Kraft, wenn der Hüter eines Heiligtums kein eigenes Feuer mehr besitzt. Darin liegt zu jeder Zeit das Problem der Mysterienschulen, sie erkranken an ihrer Weltzugewandtheit, die sie zwar für ihr Überleben in der Form brauchen, die aber nicht selten die auf Kosten der Ideale geht. Amfortas, der Mysterienpriester des Fische-Zeitalters, steht an dem See der Seelen und fischt nach einer neuen Phase des Religiösen, denn er ist geschmückt mit Pfauenfedern; gemeinsam mit dem Symbol der Amphore repräsentieren sie das Zeichen Wassermann und den Planet Uranus. Indem er sich so schmückt, hofft er darauf, dass ein Erlöser kommt, der die angeschlagene Amphore vor der endgültigen Zerstörung rettet und einen neuen gesunden Zyklus einleitet. 

Gabriele Quinque
 

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden gründete sie im Jahr 2000 gemeinsam mit anderen Gefährten den FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut, der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. durch ein Einweihungssystem in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten. Mit allen Aktivitäten äußert sie das Anliegen, in jedem Mann und in jeder Frau eine geistige und religiöse Orientierung zu fördern.

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