Was ist Mythologie?
Ein langes Stück Schnur ist alles, was Theseus braucht, um in das Labyrinth des Minotaurus herein und vor allem auch wieder herauszukommen, nachdem er seine Heldentat vollbracht hat. Diesen Ariadnefaden wünscht sich ein Mensch, der ernsthaft beginnt, sich der Mythologie zuzuwenden. Es gibt zahllose überlieferte Legenden, die geringschätzig belächelt werden. In der materiellen Verblendung der Gegenwart denken viele Menschen, das seien nur altertümliche Mythen, die heute keine Bedeutung mehr haben. Aufgrund einer phantastischen Bilderwelt passen sie nicht in die derzeitige Logik. Es fehlt der Blick für die innere Struktur eines jeden Mythos, da der heutige Mensch im wesentlichen auf die äußere Form einer Geschichte achtet und sich unterhalten lassen möchte. Er will sich sozusagen „Unten halten“. Voreilig verwirft er die Mythologie als irrational, wenn von Drachen die Rede ist, die den Helden in seiner Kraft prüfen, oder wenn magische Werkzeuge auftauchen, die das Werk des Helden unterstützen. Die unlogisch und unvernünftig anmutende Flut von Bildmaterial in antiken Mythen findet keine Gnade vor den strengen Richtern moderner Intellektualität. Obwohl die Mythen des Altertums noch als Pflichtlektüre durch die Gymnasien geistern, wird vieles entmythologisiert, da man den inhaltlich wertvollen Zugang nicht mehr findet. Die Schulen konzentrieren sich hauptsächlich auf äußeres Wissen, um den Menschen auf das anstrengende praktische Leben vorzubereiten. Auch Psychologen kümmern sich eigentlich nicht um die Seele, sie therapieren ihre Klienten hauptsächlich auf das Ziel hin, alltagstauglich und unauffällig durch die Welt zu gehen. Selbst die religiösen Mythen drohen in einer historisch orientierten Religionswissenschaft unterzugehen. Die Perspektive einer geistigen Erhebung schimmert für das Gros der Bevölkerung leider kaum noch hindurch. Entmystifziert verfehlen auch christliche Motive ihren heilsamen Zweck und dienen allenfalls einer sozial-moralischen Umgangsform. Als Meister Eckhart im 13. Jahrhundert den Begriff Bildung der deutschen Sprache hinzufügte, definierte er das Bild noch als eine Sache zwischen Mensch und Gott. Ein Gebildeter sollte jenen uralten Bildern nachfolgen, die ihn über den niederen Instinkt in eine erhöhte Wahrnehmung zu erheben vermochten. Wer sich jedoch heute für gebildet hält, meint nicht viel mehr als, er sei ausreichend über die Bandbreite menschlicher Handlungen informiert. Allgemeinbildung nennt man dies. Vielseitig interessiert zu sein gilt als Gütesiegel. Interesse heißt aber dazwischen sein und mal hier, mal da ein Randgeschehen downzuloaden.
Die Lösung aus dem Kollektiv
Der Mensch hat jedoch eine weitaus größere Aufgabe zu erfüllen als glücklich, gesund und reibungslos die Spanne zwischen Geburt und Tod hinter sich zu bringen. Nur wenige spüren dies und richten sich innerlich zum senkrecht stehenden Kreuz auf, da sie die Individuation in eine höhere Bewusstheit anstreben. Eben diesen Prozess zeigen alle überlieferten Mythen und Märchen auf. Sie handeln von dem bewussten Heraustreten aus der Herde und künden unermüdlich von der Bewältigung schwieriger bis lebensbedrohender Aufgaben. Werden diese harten Prüfungen von einem Helden gemeistert, erleben wir die Rückkehr des gestärkten Individuums in die zuvor verlassene Gemeinschaft. Es erfolgt das Wiedereingliedern auf einer neuen Ebene des Bewusstseins. Nach seiner Heldentat erweist sich der Mensch als festes Glied einer Kette und übernimmt die volle Verantwortung für das Wohl des Ganzen.
Der Ruf ergeht
Zu Beginn eines jeden Mythos ergeht der Ruf zur großen Tat. Doch meistens hat der zukünftige Held wenig Lust, das zu verlassen, was er für seine weltliche Ordnung hält. Er sieht sich einem bedrohlichen Ablösungsprozess ausgeliefert und klammert sich fest an die ökonomische Sicherheit. Ebenso wenig möchte er natürlich sein Weltbild verlassen, in dem er sich zu Hause fühlt. Aber an einem Ruf, der ergangen ist, gibt es nichts zu rütteln und weglaufen hat keinen Zweck.
Das Schicksal ereilt den Menschen immer auf jenen Wegen,
die er eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen.
Nirgends wird dies so in aller Deutlichkeit gezeigt wie im Mythos, wenn Mose anfänglich das Amt des Propheten ausschlagen will oder Odysseus sich weigert, gegen Troja in den Krieg zu ziehen. Auch in den volkstümlichen Varianten von Sagen und Märchen, trägt das Verhalten immer dazu bei, das vorherbestimmte Gesetz einer höheren Macht erfüllen zu müssen, wie z. B. im Märchen Dornröschen. Dort wurden extra alle Spindeln vernichtet, um einer unguten Prophezeiung zu entkommen. Aber im entscheidenden Moment sticht die letzte verbliebene Spindel gerade deshalb zu, weil sie einen unbekannten Reiz auf Dornröschen ausübt.
Das aufgeräumte Weltbild von Sol und Luna
Der Mythos unterscheidet den männlichen und den weiblichen Weg. Während die Heldin demütig auf Erlösung wartet, großes Seelenleid erträgt und schließlich durch Liebe das hässliche Böse durch Integration auflöst, erwartet der Mythos vom Heros in erster Linie körperliche Stärke, Mut und Geschicklichkeit. Ein Herkules kämpft mit seinen Zauberwaffen und überwindet den Schatten durch Vernichtung bedrohlicher Ungeheuer. Beide Möglichkeiten stehen gleichwertig nebeneinander. Im Mythos wirken alle Versuche der Geschlechter, den jeweiligen gegenpolaren Weg zu beschreiten, ähnlich verpolt wie deren Ableger, die uns im richtigen Leben entgegentreten. Wenn ein Mann sich übermäßig empfindsam zeigt oder eine Frau sich rücksichtslos die Karriereleiter empor kämpft, so gewinnt man oft den Eindruck, dass etwas Wesentliches verkehrt läuft. Schuld an solchen Zerrbildern ist die geschlechtslose Seele, die letztendlich immer beide Seiten der Medaille erfüllen muss. Da die Seele jedoch in Raum und Zeit entweder an eine männliche oder weibliche Körperlichkeit gebunden ist, kann es passieren, das Gemüt begehrt dagegen auf. Das Nichteinverstandensein mit männlichen oder weiblichen Archetypen belegt den schwierigen Wechsel von der einen Seite zur anderen, zu dem die Seele durch ihre Inkarnation verpflichtet ist.
Für diese Problematik schärft die Mythologie den Blick für die archetypischen Muster, um diesen auf dem eigenen Lebensweg bereitwilliger folgen zu können. Der Mythos bleibt auch dort noch ehrlich und konsequent, wo die Dinge einen dramatischen Lauf nehmen. Wer sich wieder hineinarbeitet in das mythologische Schauen, verliert unrealistische Träume von einem konfliktfreien Dasein, wonach der Mensch immer wieder strebst, obwohl es der allgemeinen Erfahrungen gänzlich widerspricht. Mythologie schärft den Blick für die Polarität, an die wir als Menschen gebunden sind. Ost und West, Mann und Frau, Krieg und Frieden sowie alle anderen gegenpolaren Paare lassen sich niemals innerhalb der sichtbaren Welt miteinander vermählen. Allein im Bewusstsein kann man beiden Seiten die gleiche Chance zur Verwirklichung einräumen. Als Folge dieser Einsicht könnte der Mensch die wesentlichen Gründe seiner Existenz in der Polarität wieder erahnen. Das würde vor allem heißen, äußeres Wissen und innere Weisheit, Zeitquantität und Zeitqualität wieder sauber getrennt voneinander wahrzunehmen. Dann hört man vielleicht auf, die falsche Instanz anzuklagen, wenn die Wasser der Meere von dem Öl aus den schwarzen Tiefen der Erde verunreinigt werden, um zu zeigen, dass das Leben selbst vergeht, wenn man mischt, was nicht gemischt werden darf. Man kann auch nicht das Einatmen mit dem Ausatmen mischen, ohne Probleme zu bekommen. Die Lebendigkeit der Welt basiert auf der Spannung von Gegensätzen und Rhythmen, wie sie uns im Mythos gezeigt werden.
Die Reifeprüfung
Der nächste Schritt im Mythos wird für den Menschen in seinem Leben erfahrbar. Ist der Ruf zur großen Tat dann schließlich freiwillig oder unfreiwillig angenommen worden, erhalten beide, Held und Heldin, echte Hilfe aus mysteriösen Quellen. Das kennt jeder, der sich ernsthaft auf den Weg macht, ein ungewöhnliches Ziel zu erreichen. Die Fäden der Vorsehung beginnen ihre Arbeit und ziehen den Menschen unweigerlich zu verschiedenen Stationen hin, die besonders am Anfang der Wanderung womöglich sogar in ihrer Täuschung durchschaut werden müssen. Mit der Zeit lernt man zu fliehen, wenn Frau Lüge und Herr Schmeichel einem den Weg versüßen wollen, um das Voranschreiten im Keim zu ersticken, weil sie nichts anderes darstellen als die rücksaugenden Schlingpflanzen eines soeben verlassenen Weltbildes. So wächst man auf dem Acker der Erkenntnis sehr langsam heran und wird reif für jene metaphysischen Stationen, die keine billigen Versprechung mehr abgeben, sondern echte Hilfe in Form von Kraft und Selbstbewusstsein bereitstellen, damit der Sieg über das Reich des Unbewussten von dem Individuum selbst erlangt werden kann. Bleibt diese überirdische Hilfe im Leben eines Menschen aus, so kann er sicher sein, dass er bereits an den ersten Aufgaben gescheitert ist. Vielleicht hegt er noch die Hoffnung, sich zwar selbst als Held gebärden zu können, den schwierigen Drachenkampf aber lieber an seinen Guru, seinen Therapeuten oder an das soziale Netz delegieren zu dürfen. Aber ohne Selbstverantwortung gibt es auch keinen Helden. Genau genommen gehört nur sehr wenig Symbolkenntnis dazu, die Strukturen der Mythen auf die geistige Entwicklung zu übertragen. Aber das Gros moderner Menschen hat die kulturbezogenen Mythologien in verstaubte Bücherregale gestellt, obwohl in ihnen jene Grundthesen enthalten sind, die für den Reifungsprozess der menschlichen Psyche ebenso notwendig sind wie Vitamine und Mineralien für den Körper.
Die Vollwerternährung des Geistes kann mit Hilfe
der tradierten Mysterienschlüssel wieder an
das zu einseitig rationale Weltbild unserer Zeit angegliedert werden.
Auch die äußere gegenwärtige Welt ist ein Mythos, der gerade aufgeführt wird: Aber um das sehen zu lernen, empfiehlt es sich, die sogenannten alten Mythen zu studieren, weil hier unsere emotionale Verwicklung nicht sogleich aufbegehren muss, wenn es einmal eng wird für das Gemüt des Einzelnen. Eine gute Möglichkeit bietet hier die griechische Mythologie. Momentan gehören die Göttergeschichten vom Olymp bloß zur Allgemeinbildung und sind für viele mit ihren verzwickten Verwandtschaftsverhältnissen gar nicht so recht nachzuvollziehen. Es gelingt einem noch ganz gut, die Eifersucht der Hera, die mächtig unter den Seitensprüngen ihres Göttergatten Zeus leidet und mit dem Thema der weiblichen List und Rache nicht gerade zimperlich umgeht, im profanen menschlichen Leben wieder zu entdecken. Aber bereits bei den zahlreichen Verwandlungskünsten des großen Gottes schütteln wir heute den Kopf und haken das Ganze als unrealistisch und unbrauchbar ab. Aber spätestens in einem Gespräch mit einem Astrologen erfährt der Klient vielleicht, dass die griechische Liebesgöttin Aphrodite, mit ihrem römischen Namen Venus, ausgerechnet in seinem Horoskop sich mit Zeus (Jupiter) auf das Innigste verbunden habe und dadurch angezeigt sei, dass er, der Horoskopeigner, nun Liebe ohne Weihrauch und Myrrhe nicht so recht genießen könne. Oder Ares (Mars), der Kriegsgott, pflegt ein unübliches Verhältnis mit Poseidon (Neptun) und man kann daran ablesen, dass der Betroffene den Krieg nach draußen projizieren muss, weil er Aggression im Pantheon seines eigenen Götterdramas (Horoskop) nicht wahrnehmen mag. Diese Beispiele zeigen, wie die Astrologie schon allein wegen der Sprache, die ihr zugrunde liegt, zu den olympischen Mythen führt. Es lohnt sich daher, diese als Träger der Urprinzipien neu zu beleuchten, um die Metaphern in ihrem analogen Zusammenhang besser verstehen zu lernen. Schließlich erlebt man auch in einer Trance-Arbeit seinen eigenen Mythos vor verschiedenen Hintergründen, die sich häufig an dem mythologischen Gedankengut orientieren. Und hier stellt man besser nicht mehr die Frage nach richtig oder falsch, auch „soll man“ oder „soll man nicht“, sondern man schaut seine eigenen Bilder an und erfährt unmittelbar, was jeder Mythos dem Menschen schenken möchte: Einen echten, spürbaren Reifeprozess des Bewusstseins und Selbsterkenntnis in ihrer höchsten Form. Mögen deshalb die Mythen ihren ursprünglichen Platz zurückerhalten und unserer Zeit wieder inneren Halt d.h. Inhalt gebe
Der unveränderliche Kern der Mythen
Alle sinnvollen Metaphern überdauern jene Kultur, die sie hervorgebracht hat. Weisheit, die in Geschichten mit starken Bildern fixiert ist, eignet sich besser als belehrende Worte für die Überlieferung. Sie kann jederzeit neu erkannt werden von dem, der sich entsprechend bemüht, die zeitlose Symbolik zu entschlüsseln. Wieder und wieder können Mythen gelesen, aufgeführt, verfilmt und umgeschrieben werden, solange man die archetypische Struktur nicht verändert. Geschieht das aus Versehen doch, wird die entsprechende Version verschwinden, wie alles vergeht, wozu der himmlische Geistfunken im Menschen nicht in Resonanz geht. Es ist keine Blasphemie, mythologische Themen in zeitgemäße Sprache zu übersetzen, solange sie inhaltlich in der traditionellen Symbolik bleiben. Jede Mythologie transportiert das Größere und Unaussprechliche. Ähnlich wie Kinder gern Erwachsene spielen, sollten Erwachsene gern Götter spielen, um ihren Horizont zu erweitern.
Nicht der Mythos muss zum Menschen herunterdividiert werden,
sondern der Mensch muss hinaufgelangen
in die kosmischen Prinzipien, die im Mythos fixiert sind.
Einer der vielen Vorzüge der Mythologie liegt darin, dass sie wunderbarer Weise nur auf denjenigen läuternd und erhöhend einwirkt, der sich ihr seelisch und geistig zuwendet. So wird sich der Ahnungslose bei der Lektüre langweilen; die junge Leseratte mag Spannung und Abenteuer herauslesen; der Ethnologe erforscht die äußere Struktur; der Psychologe findet die Seelenmuster seiner Klienten wieder; der Hermetiker begegnet denselben Inhalten wie in seinen Säulen des Tarot oder im Tierkreis; und der Alchemist spürt darin Gleichnisse seiner Laborprozesse auf. Es wird schließlich möglich, die inhaltliche Struktur des Einweihungsweges wahrzunehmen, die alle Heldenepen durchzieht. Besondere geistige Schätze können aus der Mythologie gehoben werden, denn wertvolle Zeichen dringen immer dann in die Wahrnehmung, wenn man ihrer bedarf. Alle Mythen bieten dem Menschen eine Form von Heilslehre an, die den Weg der irdischen Seelenpersönlichkeit zurück in die himmlische Einheit beschreibt. Wegen der deutlich erkennbaren Verbindung von Mensch und Gott ist Mythologie Religion im besten Sinn des Wortes, in der erfahrbaren Rückbindung an die Gottheit.
„Man könnte die ganze Welt einen Mythos nennen,
der die Körper und Dinge sichtbar,
die Seelen und Geister in verborgener Weise in sich schließt.
Würde allen Menschen die Wahrheit über die Götter gelehrt,
so würden sie die Unverständigen,
weil sie sie nicht begreifen, gering schätzen,
die Tüchtigeren aber zu leicht nehmen.
Wird aber die Wahrheit in mythischer Umhüllung gegeben,
so ist sie vor Geringschätzung gesichert
und gewährt den Antrieb zum Philosophieren.“
(Gajus Salustius Crispus 86 v. Chr.)
Gabriele Quinque